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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Wonne! Er nahm einen Geschmack wahr und schluckte. Kühle, wohlschmeckende Kaskaden rannen in seine Kehle. Es hatte den Anschein, als arbeiteten alle Aggregate des Anzugs fehlerfrei. Wie lange schon, wie lange?
    »Wie spät ist es?« Der Klang seiner Stimme durchfuhr ihn wie ein Schock.
Lauretta schlug die Augen auf. Er ahnte, daß sie ein Lächeln versuchte, und wartete geduldig, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Es dauerte. Aber Zeit hatte für sie keine Bedeutung mehr.
»Hallo, mein Lieber.«
»Wie fühlst du dich?« fragte er. »Geht es dir gut? Du hast lange gebraucht, länger als sonst. Diesmal war ich der erste. Sag mir die Wahrheit. Es geht dir doch gut?«
»Aber natürlich.« Sie räusperte sich, und ihre Stimme verlor ein wenig von der Brüchigkeit, die ihn beunruhigt hatte. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Ich werde es bestimmt schaffen, du mußt nicht mehr lange warten.«
»Hoffen wir, daß nicht wieder Geröll nachrutscht.«
Sie erwiderte nichts darauf. Was hätte sie auch sagen sollen. Der Fall war mehr als einmal eingetreten, und mit unerschütterlichem Mut hatte sie immer wieder von vorn begonnen. Ihm war, als sähe er ihren Mund die Worte formen.
»Ich bin bald bei dir, und dann bist du frei. – Warum lachst du?«
»Entschuldige. Es ist albern.«
»Wir müssen voreinander nichts entschuldigen.«
»Ich stellte mir vor, wir könnten wie die Mumien anzuschauen sein, vertrocknet und braunledern nach so langer Zeit.«
»Aber wir sehen uns doch«, widersprach sie. »Ich weiß genau, wo du liegst. Ich sehe deinen Helm aus dem Geröll ragen. Im Fenster sehe ich dein Gesicht. Es ist dein Gesicht. Die Zeit hat dich kaum verändert.«
»Einbildung«, sagte er. »Es ist alles Einbildung. Wir leben von Wunschbildern.«
»Nenne es doch Hoffnung«, flüsterte sie. »Wir leben von unserer Hoffnung.«
»Wie lange tun wir das schon? Wie lange werden wir noch die Kraft besitzen?«
»Oh, laß mich nachrechnen!« rief sie scheinbar fröhlich, als würde mit dem Ergebnis eine neuerliche Hoffnung auferstehen. »Beim zwölften Mal der rechte Arm, beim fünfzehnten das Bein, sechzehn, siebzehn. Es ist das siebzehnte Mal!«
»Also«, sagte er, »das macht einhundertundsiebzig Jahre. Plus siebzehn Stunden. Erstaunlich!« Sein leises Lachen voller Sarkasmus war eigentlich nur für ihn selbst bestimmt. »In jeweils einer Stunde erledigen wir die sanitären Angelegenheiten, nehmen für zehn Jahre autosuggestiven Tiefschlafs die erforderliche Menge an Nährstoffen zu uns und begeben uns wieder angsterfüllt in unseren tiefgekühlten, drogengestützten Frischhaltezustand. Ich frage dich, wie lange macht ein Organismus das mit? Wir bauen ab. Jeder Kiesel, den du beiseite räumst, kostet dich bereits übermenschliche Anstrengung. Während der vergangenen Male hast du weniger geschafft. Es ist immer weniger geworden. Wenn du heraus bist, wirst du an die fünfzig Jahre brauchen, um zu mir zu kriechen, und zweihundert, um mich freizuschaufeln.«
»Und wenn!« Ihr Schrei unterbrach ihn. »Ich werde dich freiwühlen, du verdammter närrischer Realist! Narrheit, sich noch eine Chance auszurechnen. Aber sie ist da. Ich werde freikommen, und sei es nur, um in deinen Armen zu sterben.«
»Jetzt wirst du sentimental.«
»Waschlappen!« schrie sie in ihr Mikrophon. »Was muß ich dummes Weib mich an einen Waschlappen hängen. Verrecke doch in deiner Gruft, du mein Geliebter, stirb ohne meinen Beistand, allein, wie es dein Wille ist.« Der Atem ging ihr aus und der Mut. Er schwieg. Hatte ihn ihr Spott in Ratlosigkeit gestürzt? »Verzeih mir, mein Lieber. Du befindest dich in einer schlimmeren Lage als ich. Aber mach mir doch ein bißchen Mut. Ich bitte dich, gib mir doch ein klein wenig Kraft.«
»Unsere Hoffnung ist lächerlich«, erwiderte er. »Glaubst du im Ernst daran, daß man uns jemals hier findet. Nie wieder nach uns ist ein Mensch hierhergekommen. Dabei waren die Höhlen auf Titan seinerzeit würdig der weltweiten Aufmerksamkeit. Vielleicht hat man den Mond inzwischen aufgegeben, vielleicht sind dort oben gar keine Menschen mehr, vielleicht sind nur noch Roboter dort oben, Automaten.«
»Mit dieser Ungewißheit zu sterben, das wäre doch fatal«, sagte sie.
»Ja, das wäre es.«
Er hörte am Rhythmus ihres Sprechens, daß sie bereits mit der Arbeit begonnen haben mußte. Was für ein grotesker Wille doch im Menschen wohnt, dachte er. Was für eine Triebkraft ist das, was sich da über Leiden und Schmerzen hinwegsetzt, über

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