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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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alles bessere Wissen?
Sie gab einen angestrengten Laut von sich. »Ist es nicht komisch? Siebzehnmal erleben wir nun schon den gleichen Vorgang. Wir erwachen, finden alles hoffnungslos und beginnen an unserer Befreiung zu arbeiten.«
Du, wollte er sagen, du arbeitest. Aber er unterließ es. Er wollte nicht mit Worten das Jetzt verkürzen, das Aufbegehren gegen den Tod. Die Angst ließ sie um Aufschub ringen. Aber was kam dann? Was würde ihnen zu tun bleiben, wenn es ihr gelang, ihn zu befreien? Würden sie, in der Hoffnung gefunden zu werden, die Lebenszeit strecken und das Verhältnis zwischen Schlaf und Wachsein beibehalten? Oder würden sie den Versuch wagen, den Eingang freizuräumen, um damit das Risiko einzugehen, die Energie, die sie noch über Jahrhunderte am Leben erhalten hätte, innerhalb eines Tages zu verpulvern?
»Buridans Esel«, sagte er, »konnte es nicht schwerer haben.«
»Was meinst du?«
Er versuchte, es ihr zu erklären. »Etwa so«, fügte er hinzu, »wir müssen damit rechnen, daß einer der beiden Heuhaufen vergiftet ist.«
Er lauschte den Geräuschen ihrer Tätigkeit. Er wußte, wann sie sich vorbeugte, den Arm hob, zufaßte, um Steinchen für Steinchen beiseite zu räumen. Scholle für Scholle. Um Energie zu sparen, arbeitete sie im Finstern. Ihre in Handschuhen steckenden Hände mußten tasten und fühlen. Jeder unbedachte Griff konnte die Mühe von Jahrzehnten zunichte machen. Jede unnötige Bewegung kostete Unersetzbares.
Mühevoll hob er den Kopf ein wenig an. Der Druck seiner Stirn gegen den Hauptschalter aktivierte die Sensoren in den Handschuhen: Zeigefinger vorstecken, zurückziehen, Mittelfinger, Daumen. Er kannte die Antwort, ehe er die Frage fertig formuliert hatte.
»Bei konstantem Minimalverbrauch Funktionsfähigkeit der Zellen siebentausenddreihundertzweiundzwanzig Tage plus minus fünf Stunden garantiert.«
Die Stimme des Coders erinnerte ihn an jemanden, an irgend jemand, den er wohl einmal bewundert hatte. Es fiel ihm nicht ein, wer das gewesen sein könnte. Ein Schauspieler, ein Sportler? Ein Freund?
Die Freunde waren tot. Seine und Laurettas Zeit gehörte der Vergangenheit an. Es lebte niemand mehr, den sie kannten. Die Toten waren vergessen. Ein Dutzend von ihnen lag in allernächster Nähe begraben unter den Trümmern des Stollens. Die Vorstellung war beängstigend. Mit Gedanken klammerte er sich an die Erde. Der letzte Freund, der letzte Bekannte mochte vor einhundertzwanzig Jahren friedlich in seinem Bett gestorben sein. Sie würden es niemals erfahren. Einhundert Jahre, was für ein Zeitraum. Inzwischen existierte eine fremde Menschheit. Ein Haufen von Individuen, von deren Beziehungen er nicht das geringste wußte. Leute, für die sie beide nicht vorhanden waren. Vielleicht würde es eine Sensation geben, wenn sie zum Vorschein kamen: Hallo, da sind wir wieder! Vielleicht aber auch nicht. Etwa so: Äh Kollege Soundso da sind zwei aus der Vergangenheit kümmern Sie sich doch mal um sie ich weiß Sie haben Wichtigeres zu tun aber einer muß es ja übernehmen. Punkt!
Was für ein Blödsinn einem in den Sinn kommt. Er kicherte.
»Was ist?« fragte sie.
»Nichts. Ich denke nach. Kommst du vorwärts?«
»Ich muß eine Pause einlegen. Mein Goder hat mich gewarnt!«
Als könnte sie es bemerken, schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, jetzt ist es wirklich egal.«
»Fängst du schon wieder an?«
»Nein, nein, so meine ich es nicht. Ich habe das Herumliegen satt. Und wenn ich alle Energie für einen einzigen, riesigen Sprung verbrauchen würde, ich würde ihn tun. Natürlich sucht schon lange niemand mehr nach uns. Der Zufall, auf den wir setzten, ist nicht eingetreten. Unsere Chance verringert sich von Mal zu Mal. Wir können einfach nicht länger hier herumliegen.«
»Bislang hatten wir keine Wahl«, erwiderte sie.
Befangen, wie im Gespräch mit sich selbst, bemerkte er: »Es ist sinnlos, weiterhin zu zögern. Unsere Körperkräfte sind reduziert. Das Denken fällt mir schwerer. Meine Erinnerungen sind diffus. Noch sind sie wohl komplett. Wie lange noch? Mein Gedächtnis versagt bereits, will ich einen Zusammenhang zwischen einem konkreten Umstand, einer Person und einem Datum herstellen. Nicht immer, aber manchmal. Angesichts dessen erscheint es mir wie ein Anachronismus, daß ich dich in Farbe zu sehen meine. Etwas scheint in meinem Kopf vorzugehen; etwas, was sich weigert, dein Bild als Täuschung anzuerkennen, etwas, was mir kein Mensch glauben würde. In mir denkt

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