Stolperherz
verschwunden.
»Verdammt!«, schimpfte Flocke, »jetzt glaubt sie, ich wäre nicht mehr zu haben! So ein Ärger aber auch!«
Lachend und kopfschüttelnd bestellten wir eine Runde für alle, inklusive Fanta für mich.
»Auf Red!«, rief Greg, »die uns immer wieder aufs Neue überrascht!«
Dann sah er mir tief in die Augen. »Ohne dich wären wir um eine geniale Erfahrung ärmer, und hätten jetzt auch nicht das Angebot …«, er hob seine Stimme wieder, »… eines Aaaaartist Scouuuts!«
»Auf Red!«, wiederholten die anderen.
Es war das allererste Mal, dass wir eine Runde waren. Wir alle, gemeinsam. Michelle, die mich nicht mehr als Feindin sah, Kira, die Arm in Arm mit Schleicher in der Runde stand. Greg, der – zwar nur im Verborgenen – meine Hand gehalten hatte. Flocke, der mal wieder schockverliebt war, diesmal in Jess, Tobi und Lex – wir alle waren eine Truppe, die zusammengehörte.
»Auf Sanny!«, sagte Lex leise und sah mich einmal mehr nachdenklich an.
*
Es musste gegen zwei Uhr gewesen sein, als wir uns endlich von der Bar loseisen konnten und in Long Johns Bandquartier Einzug hielten.
»What a day!«, resümierte Tobi, der Michelle im Arm hielt.
»Oh ja«, antwortete sie.
Ich konnte mir denken, was ihr gerade durch den Kopf ging, und ich hoffte, dass sie so bald wie möglich mit Tobi sprechen würde, denn ich hatte das Gefühl, dass ihr ehrlich etwas an ihm lag. Ich war sicher, dass sie von nun an anders mit den Erwartungen anderer umgehen würde, auch wenn ich ihr nicht abnahm, dass sie ab heute zugab, New York, London und Paris nie bereist zu haben. Aber das war auch nicht schlimm, denn es war ihre Art, sich durch diesen Dschungel, den wir Leben nennen, zu kämpfen.
Erschöpft kuschelte ich mich auf das große Aufklappsofa, das Long John Michelle, Kira und mir bereitgestellt hatte, denn er war von der alten Schule und definitiv für getrennte Jungs- und Mädchenzimmer.
Ich war todmüde und die Augen fielen mir in dem Augenblick zu, in dem ich meinen Kopf auf das weiche Kissen bettete. Aber die vielen Gedanken dieses aufregenden Tages mussten in meinem Kopf noch sortiert werden.
Ich dachte über die Menschen nach, und warum sie so oft so weit entfernt von dem Bild sind, das andere von ihnen haben.
Michelle war laut und schrill, um ihre Unsicherheit dahinter zu verstecken. Sex und Alkohol waren ihre Schutzschilder, hinter denen sie sich verbarg, und sie erreichte ihr Ziel: Niemand erwartete von ihr, etwas anderes als laut und schrill zu sein.
Kira war wunderschön und doch unglücklich, genau immer wegen dieser Schönheit gewollt zu werden.
Greg hatte einen Vater, der seine Leidenschaft lächerlich fand und der alles, wofür er lebte, verachtete.
Jeder von uns hatte eine verborgene Geschichte, eine, die von außen nicht sichtbar war.
Ich hatte ein kaputtes Herz, das tickte wie eine Zeitbombe. Im Grunde waren wir alle gleich – jeder von uns hatte Angst vor etwas, vermisste etwas, liebte etwas, hatte schon mal etwas verloren.
Ein letzter Gedanke ging mir durch den Kopf, bevor der Schlaf zu übermächtig wurde.
Es sind die Dinge, die man liebt, die einen stark werden lassen. Und die Menschen.
12. KAPITEL: F LUCHT
Scheiße!!!
Es war exakt 2:52 Uhr, als es mir siedend heiß einfiel: Lisa! Zitternd kramte ich mein lautlos gestelltes Handy aus der Tasche und sah es auf dem Display: 23 Anrufe in Abwesenheit. Alle von meiner Mutter.
Dieser Tag war so aufregend gewesen, so voll von allem, dass ich den Anruf schlicht und einfach vergessen hatte. Selbst die abendliche Erinnerung hatte ich aufgrund des ganzen Trubels nicht gehört.
Oh Gott! Was sollte ich jetzt tun?
Ich saß senkrecht auf dem Sofa und starrte auf das Handydisplay.
Lisa hatte die Klinik angerufen, das war klar.
Sie wusste jetzt, dass ich nicht da war.
Sie würde mich suchen lassen.
Sie würde durchdrehen.
Egal, was ich jetzt tat – es bedeutete, dass ich zurückmusste. Dass dieser Traum vorbei war.
Ich konnte die gleichmäßigen Atemzüge von Michelle und Kira hören, die tief und fest schliefen.
Leise wickelte ich mich aus der Decke und schlich mich mit dem Handy in der Hand barfuß vor die Tür. Ich war weder aufgeregt noch zittrig, sondern ganz klar.
Ich wusste, was zu tun war, es gab keine andere Möglichkeit.
»Sanny!!! Du lebst!«
Meine Mutter klang erwartungsgemäß hysterisch, so, als sei ich nur mit einem Kochlöffel bewaffnet in den offenen Krieg gezogen oder mit einem Plastikdrachen zum Mond
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