Stolperherz
geflogen und hätte unfassbarerweise überlebt. Ich musste mich schwer zusammenreißen.
»Ja.«
»Oh Gott, Sanny, um Himmels willen, wo bist du? Wo bist du? Ich, ich, ich …«
»Lisa«, unterbrach ich meine Mutter, »mir geht es gut. Wirklich. Bitte lass mich erklären, was los ist.«
»Aber, aber … Oh Gott, ich hab mir solche Sorgen gemacht, wir suchen dich überall, Himmel, sag doch, wo du …«
»Lisa!«, unterbrach ich sie ein zweites Mal, »ich möchte es dir ja erklären. Es ist wichtig, dass du mich anhörst.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte nun angestrengtes Schweigen.
»Gut«, begann ich, »du hast recht. Ich bin nicht in der Klinik. Ich bin auch nicht an der Ostsee. Ich bin – woanders. Ich kann dir im Moment nicht sagen, wo, denn ich weiß, dass du sofort kommen würdest.«
»Aber …«
»Lisa!«
»Gut. Rede weiter.«
»Ich bin okay, glaub mir das bitte. Ich bin, ich bin …«
Ich überlegte – was war das eigentlich, was ich hier tat?
»Ich bin auf einer Reise. So eine Art Reise … zu mir selbst. Sie ist wichtig für mich, sie bedeutet mir viel. Ich weiß, das hört sich verrückt an. Es tut mir wirklich leid, dass ich unseren Deal gebrochen habe. Aber bitte versuche wenigstens, mich zu verstehen. Ich weiß, dass es viel verlangt ist, dich genau jetzt darum zu bitten. Nachdem ich dein Vertrauen missbraucht habe.«
Ich hörte ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung.
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte Lisa in einem ruhigen, bedachten Ton. Alle Hysterie schien verflogen.
»Warum?«
»Die Polizei sucht dich bereits.«
Ich seufzte. »Ich hab’s mir gedacht.«
»Aber wieso dann?« Ich hörte, wie jetzt auch Lisa tief in den Hörer atmete.
Irgendwie klang sie anders als sonst und zuerst wusste ich nicht, was es war, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Mutterton fehlte. Lisa sprach zum allersten Mal auf Augenhöhe mit mir.
»Die Polizei braucht nicht weiter zu suchen«, sagte ich.
»Das heißt, du kommst?«, fragte Lisa hoffnungsvoll.
»Nein.«
»Dann wird sie weiter suchen müssen.« Lisa klang schon weniger ruhig als eben noch.
Ich wusste, dass jedes weitere Wort zu viel war, es würde doch nichts bringen.
»Bitte grüß Paps von mir«, sagte ich und bevor sie anfangen konnte, mit mir zu diskutieren, legte ich, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf.
Das war ein seltsames Gespräch gewesen – immerhin hatte mir meine Mutter gerade eben verklickert, dass sie mich polizeilich suchen ließ. Aber sie hatte mich zum ersten Mal nicht behandelt wie ein Kleinkind – im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter endlich das in mir sah, was ich war: eine junge Erwachsene. Und das fühlte sich unglaublich gut an. Trotz der Tatsache, dass ich nun quasi auf der Flucht war, fühlte ich mich befreit.
Ich konnte Lisa verstehen, denn natürlich wusste ich, dass es nicht fair war, was ich von ihr verlangte. Aber genauso wusste ich auch, dass ich diese Reise brauchte, für mich, für mein Leben. Und ich konnte jetzt noch nicht sofort wieder nach Hause zurück. Das Ganze hier war noch nicht zu Ende. Ich wollte meine Eltern nicht verletzen, ihnen keine schlaflosen Nächte bereiten, ich wollte nur ihr uneingeschränktes Vertrauen. Da ich die Erlaubnis zu der Tour aber nie bekommen hätte, war mir nun mal keine andere Wahl geblieben.
Einerseits wollte ich genau die Tochter sein, die sich meine Eltern wünschten – fleißig, strebsam, ehrgeizig. Andererseits wollte ich mich in jemand anderen verwandeln, wild sein, mutig und verwegen. Ich wollte wachsen, lernen, neugierig sein – leben.
Wenn man mehrere Dinge gleichzeitig will, die sich gegenseitig ausschließen, dann ist man wohl angekommen im Zerrissensein des Erwachsenwerdens.
Ab jetzt war ich also auf der Flucht.
*
»Scht«, flüsterte ich Kira zu, noch bevor sie etwas sagen konnte, und legte meinen Zeigefinger auf den Mund, zum Zeichen dafür, dass sie Michelle nicht wecken sollte. Sie war wach geworden, als ich hereingeschlichen kam, und sah mich nun fragend an.
»Was hast du da draußen gemacht?«, flüsterte sie.
»Telefoniert.«
»Um die Zeit? Mit wem?«
»Mit meiner Mutter. Sie hat herausgefunden, dass ich abgehauen bin.«
Kira setzte sich auf. »Was?!«
»Ich bin auf der Flucht.«
Laut ausgesprochen klang es noch viel verrückter als in meinem Kopf.
»Du bist waaas?!«, wiederholte sie viel zu laut.
»Psst!«, machte ich erneut.
»Du bist was?«, wiederholte Kira, diesmal
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