Stolz und Verfuehrung
»Ausgerechnet er sagt mir, ich solle auf mich achtgeben! Schließlich bin nicht ich diejenige mit einer dicken Beule am Kopf.«
Minutenlang starrte sie auf die Nachricht, dachte nach, überlegte, wirbelte dann herum und setzte sich an den Schreibtisch. Sie zog ein unbeschriebenes Blatt Papier heran, schraubte das Tintenfass auf, tunkte die Feder ein und kritzelte rasch ein paar Worte nieder.
Nachdem sie die Tinte getrocknet hatte, das Blatt gefaltet und adressiert, schlüpfte sie hinaus und entdeckte John Ostler, den sie mit dem Zettel in der Hand zum Gutshaus schickte.
»Ich rechne nicht mit einer Antwort«, rief sie ihm nach.
Der Mann nickte und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg durch den Wald.
Em zitterte innerlich, als sie die dunklen, dicht stehenden Bäume betrachtete, drehte sich um und ging hastig zurück in das warme Licht.
Gewöhnlich schloss das Gasthaus kurz nach zehn Uhr. Pflichtbewusst erschien Lucifer um diese Zeit und half ihr, die üblichen Nachzügler freundlich hinauszukomplimentieren, eine Aufgabe, die Jonas in der letzten Zeit übernommen hatte. Der Schankraum leerte sich, Lucifer winkte ihr zu und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.
Es war beinahe elf Uhr, als sie Edgar verabschiedete und sich mit der letzten Lampe zurückzog. Sie zweifelte keinen Augenblick an ihrem Plan, während sie die Treppe hinaufstieg. Jenem Plan, den sie in wenigen Minuten in die Tat umsetzen wollte. Die Frage war nur, ob sie auch dazu in der Lage war.
In ihren Wohnräumen angekommen suchte sie ein paar Dinge zusammen, knotete in einem alten Schal zu einem Bündel zusammen und schlang sich ihren wärmsten Umhang um die Schultern. Dann ergriff sie die Lampe, prüfte den Ölstand und justierte den Docht, sodass die Flamme hell genug brannte, um ihren Weg zu erhellen. Dann ging sie die Treppe hinunter, am Tresen und an ihrem Büro vorbei und verließ das Gasthaus durch die Hintertür.
Em warf einen sorgfältigen Blick über die Schulter nach hinten, überquerte dann - ohne einen zweifelnden Gedanken zuzulassen - den Hinterhof und bog auf den schmalen Weg ein, der durch den Wald führte.
Hartnäckig dachte sie an andere Dinge ... an die Kirche im Sonnenlicht, an die Wärme und das Licht in Hildas Küche, an die Geschäftigkeit in der Waschküche, an das Gemurmel im Schankraum ... an alles Mögliche, um ihre Sinne daran zu hindern, in der schwarzen Nacht zu versinken. An die Dunkelheit wollte sie keinen Gedanken verschwenden.
Em hielt den Blick starr auf den blassen Lichtstrahl der Lampe gerichtet und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen, als sie an die Kreuzung mit dem Hauptweg gelangte und sich nach Süden zum Gutshof wandte.
Das große alte Haus lag vor ihr, irgendwo versteckt zwischen den Bäumen. Sie atmete tief durch und kämpfte gegen die Macht der Schatten, die ihre Gedanken und ihre Aufmerksamkeit auf Abwege lenken wollten.
Sie konnte spüren, wie ihr Herz lauter und lauter pochte und ihr bis zum Halse schlug. Der Impuls, einfach die Röcke zu raffen und loszurennen, wuchs immer mehr, aber sie war fest entschlossen, nicht panisch bei Jonas anzukommen.
Jonas.
Sein Anblick formte sich vor ihrem inneren Auge. Sie griff danach wie eine ertrinkende Seele, klammerte sich daran, spürte, wie ihre Sinne sich mit diesem Bild verbanden, innig genug, um selbst dem heimtückischen Sog der Dunkelheit zu widerstehen.
Em wanderte unter den Bäumen entlang, unter den tief hängenden Zweigen, atmete immer noch schwer, aber doch ruhiger. Die Augen hatte sie jetzt fest auf das Licht der Lampe gerichtet, ihr Gang war sicherer geworden und sie in ihrem Entschluss noch unerschütterlicher, während Jonas’ Bild vor ihrem geistigen Auge so unbeirrt blinkte wie ein Leuchtfeuer.
Endlich betrat sie die Lichtung, trat unter den Bäumen hervor ins schwache Mondlicht. Aus dem Dunkel heraus. Beinahe konnte sie fühlen, wie die Angst von ihr abfiel, immer dünner wurde und schließlich endgültig verschwand, als sie sich dem Haus näherte.
Sie ging direkt zur hinteren Tür, schob den Riegel zur Seite und trat ein. Auf der Kommode wartete eine brennende Kerze auf sie. Lächelnd dankte sie in Gedanken Mortimer, während sie das Licht ausblies, denn sie zog es vor, mit der Lampe nach oben zu gehen.
Em hatte sämtlichen guten Sitten zuwidergehandelt, als sie ihre Zeilen direkt an Mortimer verfasst und ihn ohne Umschweife gebeten hatte, die Küchentür für sie geöffnet zu
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