Stolz und Verlangen
Scheidung einzureichen. Seltsamerweise behagte ihm diese Vorstellung überhaupt nicht. Und wenn er sich Molly in Santos’ Armen vorstellte, hatte er das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
Molly konnte nicht fassen, dass Leandro trotz allem nach Genf fliegen wollte, als sei nichts geschehen. Seine eiserne Disziplin mit Hinblick auf seine Arbeit, obwohl ihre Ehe in einer ernsten Krise steckte, war ihr nur ein weiterer Beweis für seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber.
Kaum dass sie in ihrem Zimmer angelangt war, klingelte das Handy. Ihre Schwester war am Apparat. In diesem Moment löste sich all die aufgebaute Spannung. Tränen schossen ihr aus den Augen, und unter Schluchzen berichtete sie Ophelia, was sich zugetragen hatte. Ophelia war zutiefst schockiert, dass Leandro seine Frau für fähig hielt, eine Affäre mit einem Angestellten zu beginnen. Ophelia war zu Besuch bei ihrem Bruder und sagte Molly, dass Nikolai ebenso mit ihr reden wollte.
„Willst du wirklich bei diesem Narren in Spanien bleiben?“, hörte sie kurz darauf eine tiefe, sehr entschlossene männliche Stimme. „Ich kann in wenigen Stunden dort sein und dich nach England holen.“
Die Vorstellung, Spanien in den nächsten Stunden zu verlassen, hatte etwas Erschütterndes, aber es war auch ein äußerst verlockendes Angebot, wenn sie im Augenblick nichts mehr als Trost und menschliche Nähe brauchte. „Kannst du … ich meine, würdest du wirklich?“, schluchzte sie.
„Ich kann es kaum erwarten, endlich meine Baby-Schwester zu treffen“, sagte Nikolai.
„Ich bin kein Baby mehr …“
„Für mich schon“, beharrte er unverblümt.
Hektische Unentschlossenheit überfiel sie. Sie sehnte sich danach, bei ihrer Schwester zu sein und ihren Bruder kennenzulernen. Leandro hatte sie so sehr verletzt, dass sie kaum noch klar denken konnte. Er hatte sie der Untreue beschuldigt und ihren Worten keinen Glauben geschenkt. Er hatte sich geweigert, ihre berechtigten Klagen auch nur anzuhören, geschweige denn ernst zu nehmen. Wollte sie hier sitzen und warten, bis er aus Genf zurückkam, um dann noch weitere Vorwürfe hören zu müssen? Leandro liebte sie nicht, nichts würde das ändern. Niemals würde sie Aloise ersetzen können. Die Tatsache, dass sie in wenigen Monaten sein Kind zur Welt brachte, schien ihm auch nichts zu bedeuten. Vielleicht hatte er ja schon lange beschlossen, dass es ein Fehler gewesen war, sie zu heiraten. Das wäre auf jeden Fall eine Erklärung für sein fehlendes Interesse, am Gelingen dieser Ehe zu arbeiten.
Sie reckte die Schultern und atmete tief durch. „Ja, ich komme mit dir nach Hause zurück.“
Nikolai versprach, sie anzurufen, sobald er in Spanien gelandet war. Ophelia, die nach ihm wieder ans Telefon kam, war so aufgeregt, dass Molly kaum ein Wort von dem vor Begeisterung überschäumenden Geplapper verstehen konnte, aber zumindest löste es den Knoten aus Angst und Unsicherheit, der sich in ihrem Magen geformt hatte.
Molly setzte sich an den zierlichen Schreibtisch und holte das erlesene Briefpapier mit dem Familienwappen hervor, um Leandro eine Nachricht zu schreiben. Heiße Tränen tropften auf das Papier, während sie mit leerem Blick auf das Blatt starrte. In diesem Augenblick gestand sie sich ein, dass sie sehr viel mehr für Leandro empfand als er für sie. Aber sie wollte nicht zum kümmerlichen Abbild einer Frau werden, die sich mit den Krümeln vom Tisch zufriedengab, nur weil ihr der Glaube an sich selbst fehlte, dass sie den ganzen Brotlaib verdient hatte. Wenn sie unglücklich war, dann würde auch ihr Kind unglücklich sein. Der Traum von einer glücklichen Familie war eben nicht mehr als genau das gewesen – ein Traum.
Während Molly ihre Sachen zusammenpackte, machte sie noch eine höchst interessante Entdeckung: Im Schrank suchte sie nach einem verloren gegangenen Schuh und stieß dabei auf eine kleine Entdeckung. In einer kaum sichtbaren Spalte fand sie mehrere Schachteln mit Antibabypillen. Wer sollte die hier wohl versteckt haben? Dafür kam eigentlich nur eine Person infrage – Aloise. Es sah ganz danach aus, als hätte Aloise bewusst eine Schwangerschaft verhindert! Nun, die perfekte Frau war also gar nicht so perfekt gewesen! Molly tat es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab und packte die Schachteln wieder an ihrem Platz.
Nach dem Lunch legte sie sich ein wenig hin, bis Nikolais Anruf sie aufweckte. Sie zog ihre Ringe ab und legte sie auf den Brief an Leandro, dann
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