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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
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Geschwür ist, ein gutartiges, verstehen Sie? Oder – es könnte alles Mögliche sein. Sicher wissen wir das erst, wenn wir …«
    »Ja«, sagte Stoner. »Wann wollen Sie operieren?«
    »So rasch wie möglich«, sagte Jamison erleichtert. »Innerhalb der nächsten zwei, drei Tage.«
    »So bald?«, sagte Stoner beinahe zerstreut. Dann blickte er Jamison fest an. »Lassen Sie mich Ihnen einige Fragen stellen, Doktor. Und ich möchte Sie bitten, mir ehrlich zu antworten.«
    Jamison nickte.
    »Wenn es nur ein Geschwür ist – ein gutartiges, wie Sie es nennen –, würden einige Wochen dann einen großen Unterschied ausmachen?«
    »Na ja«, erwiderte Jamison zögerlich, »da wären die Schmerzen, aber ansonsten – nein, einen großen Unterschied würde das wohl nicht machen, denke ich.«
    »Gut«, antwortete Stoner. »Und wenn es so schlimm ist, wie Sie befürchten – würden einige Wochen dann einen großen Unterschied bedeuten?«
    Nach langem Schweigen sagte Jamison beinahe verbittert: »Nein, ich schätze nicht.«
    »Dann«, folgerte Stoner, »warte ich einige Wochen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich ins Reine bringen muss – Arbeit, die ich zu erledigen habe.«
    »Ich muss Ihnen davon abraten, verstehen Sie?«, sagte Jamison. »Ich muss Ihnen wirklich davon abraten.«
    »Natürlich«, erwiderte Stoner. »Und Doktor – Sie werden doch mit niemandem darüber reden, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte Jamison und setzte ein wenig warmherziger hinzu, »natürlich nicht.« Er schlug einige kleine Änderungen in der Diät vor, zu der er ihm letztens geraten hatte, verschrieb noch ein paar Tabletten und legte einen Termin für die Krankenhausaufnahme fest.
    Stoner empfand überhaupt nichts; ihm war, als hätte der Arzt nur von einem kleinen Übel berichtet, einem Hindernis, das er irgendwie überwinden musste, um tun zu können, was er zu tun hatte. Er dachte daran, dass es für einen Vorfall dieser Art recht spät im Jahr war; Lomax würde Mühe haben, einen Ersatz zu finden.
    Die in der Praxis eingenommene Tablette machte ihn ein wenig benommen, doch fand er das Gefühl eigenartigangenehm. Sein Zeitgefühl war gestört; er sah sich auf dem Parkett des langen, ebenerdigen Flurs von Jesse Hall stehen. Ein leises Summen drang ihm wie fernes Flügelsirren ans Ohr, und im schattigen Korridor schien ein unbestimmtes Licht mal stärker, mal schwächer zu glimmen und wie der eigene Herzschlag zu pulsieren; seine Haut, mit der er jede seiner Bewegungen verstärkt wahrzunehmen meinte, begann zu prickeln, als er übertrieben umsichtig einen Schritt ins Gemenge von Licht und Dunkelheit tat.
    Er stand an der Treppe, die in den ersten Stock führte; die Stufen waren aus Marmor und wiesen genau in der Mitte jeweils eine leichte Vertiefung auf, glatt getreten in Jahrzehnten von auf und ab eilenden Schritten. Die Treppe war noch fast neu gewesen, als er – vor wie vielen Jahren? – zum ersten Mal hier gestanden und so wie jetzt hinaufgeschaut hatte, um sich zu fragen, wohin sie führen mochte. Er dachte an die Zeit, an ihr beharrliches Vergehen, setzte behutsam einen Fuß in die erste glatte Vertiefung und verlagerte sein Gewicht.
    Dann stand er in Gordon Finchs Vorzimmer. Die junge Frau sagte: »Dekan Finch wollte gerade gehen …« Er nickte zerstreut, lächelte sie an und betrat Finchs Büro.
    »Gordon«, begrüßte er ihn herzlich, das Lächeln noch im Gesicht. »Ich werde dich nicht lange aufhalten.«
    Reflexartig erwiderte Finch das Lächeln, doch sahen seine Augen müde aus. »Sicher, Bill, setz dich.«
    »Ich werde dich nicht lange aufhalten«, sagte er noch einmal und spürte, wie sich in seiner Stimme eine seltsame Autorität bemerkbar machte. »Nur muss ich dir mitteilen, dass ich meine Meinung geändert habe – was die Emeritierung angeht, meine ich. Ich weiß, das ist lästig, und es tut mir leid, dass ich so spät Bescheid gebe, aber – nun ja, ichglaube, so ist es für alle am besten. Ich höre mit dem Ende des Semesters auf.«
    Finchs Gesicht schwebte vor ihm, rund vor Erstaunen. »Was zum Teufel …«, sagte er. »Hat dir jemand die Daumenschrauben angesetzt?«
    »Nein, nichts dergleichen«, sagte Stoner. »Das ist allein meine Entscheidung. Ich habe nur festgestellt, dass es da doch einige Dinge gibt, die ich gern noch tun würde. Außerdem«, setzte er dann hinzu, »brauche ich ein wenig Ruhe.«
    Finch war verärgert, und Stoner wusste, dass er allen Grund dazu hatte. Er glaubte sich eine weitere Entschuldigung

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