Stoner: Roman (German Edition)
beinahe unberührt schien.
Die Jahre verflogen, und er spürte sie kaum vergehen. Im Frühjahr 1954 war er dreiundsechzig Jahre alt, als ihm plötzlich aufging, dass er höchstens noch vier Jahre an der Universität lehren konnte. Er versuchte, sich die Zeit danach vorzustellen, scheiterte aber und wollte es eigentlich auch nicht.
Im Herbst dieses Jahres erhielt er eine Notiz aus Gordon Finchs Sekretariat, in der er gebeten wurde, bei Gelegenheit doch einmal vorbeizuschauen. Er hatte viel zu tun, und es dauerte mehrere Tage, ehe er einen freien Nachmittag fand.
Jedes Mal, wenn er Gordon Finch sah, merkte Stoner, wiees ihn ein wenig überraschte, dass sein Freund fast nicht gealtert zu sein schien. Er war nur ein Jahr jünger, wirkte aber kaum älter als fünfzig und strahlte eine gleichsam puttohafte Gesundheit aus; er ging mit federndem Schritt und zog sich seit einigen Jahren recht salopp an, bunte Hemden mit farblich dazu unpassenden Jacken.
An dem Nachmittag, an dem Stoner ihn aufsuchte, wirkte er verlegen. Eine Weile unterhielten sie sich über nichts Bestimmtes; Finch erkundigte sich nach Ediths Gesundheit und erwähnte, seine eigene Frau, Caroline, habe erst gestern gemeint, sie müssten einmal wieder alle zusammenkommen. Dann sagte er: »Mein Gott, wie die Zeit verfliegt!«
Stoner nickte.
Finch seufzte abrupt. »Nun«, sagte er. »Ich fürchte, wir müssen drüber reden. Nächstes Jahr wirst du fünfundsechzig, und ich denke, da sollten wir ein paar konkrete Pläne machen.«
Stoner schüttelte den Kopf. »Jetzt noch nicht. Ich habe natürlich vor, von der Zweijahresregelung Gebrauch zu machen.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Finch und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich nicht. Ich muss noch drei Jahre, und dann bin ich draußen. Manchmal denke ich an all das, was ich verpasst habe, die Orte, an denen ich nie gewesen bin – ach, verdammt, Bill, das Leben ist zu kurz. Warum hörst du nicht auch auf? Denk an die viele Zeit …«
»Ich wüsste nicht, was ich damit anfangen sollte«, sagte Stoner. »Das habe ich nie gewusst.«
»Ach, verdammt«, sagte Finch, »heutzutage ist fünfundsechzig noch ziemlich jung. Man hat Zeit, Neues zu lernen, das …«
»Lomax steckt dahinter, richtig? Er setzt dich unter Druck.«
Finch grinste. »Natürlich. Was hast du denn erwartet?«
Stoner schwieg einen Moment, dann sagte er: »Erzähl ihm, dass ich nicht mir dir darüber reden wollte. Erzähl ihm, ich sei auf meine alten Tage so grantig und zänkisch geworden, dass du nichts bei mir erreichen konntest, dass er es schon selbst machen muss.«
Finch lachte und schüttelte den Kopf. »Bei Gott, das werde ich. Vielleicht werdet ihr beiden alten Esel nach all den Jahren doch noch ein wenig nachgeben.«
Allerdings fand ihr Treffen nicht gleich statt, und als es dann so weit war – in der Mitte des zweiten Semesters – nahm es einen anderen Verlauf, als Stoner erwartet hatte. Wieder einmal wurde er gebeten, sich im Büro des Dekans einzufinden; eine Zeit wurde genannt, Dringlichkeit angemahnt.
Stoner kam wenige Minuten zu spät. Lomax war bereits da und saß steif vor Finchs Tisch; neben ihm stand ein leerer Sessel. Stoner ging langsam durch das Zimmer, setzte sich und drehte sich zu Lomax um, der unverwandt vor sich hin starrte, eine Augenbraue verächtlich hochgezogen.
Finch sah sie beide mehrere Augenblicke lang an, ein leises Lächeln im Gesicht.
»Nun«, sagte er, »wir wissen, weshalb wir hier zusammengekommen sind. Es geht um Professor Stoners Emeritierung.« Er fasste die Vorschriften zusammen – freiwilliger Rückzug in den Ruhestand war mit fünfundsechzig möglich; Stoner könnte dann, sofern gewünscht, entweder zum Ende des laufenden akademischen Jahres oder zum Ende einer der beiden Semester des folgenden Jahres ausscheiden. Oder erkonnte, falls der Fachbereichsvorsitzende, der Dekan des Colleges und er selbst zustimmten, die Pensionierung bis zu seinem siebenundsechzigsten Jahr aufschieben, dann aber sei sie obligatorisch. Sofern ihm nicht eine außerordentliche Professur angetragen werden würde, woraufhin …«
»Eine höchst unwahrscheinliche Option – ich denke, darauf können wir uns einigen«, kommentierte Lomax trocken.
Stoner nickte Finch zu. »Höchst unwahrscheinlich.«
»Offen gesagt fände ich es«, wandte Lomax sich an Finch, »im besten Interesse des Fachbereichs und des Colleges, wenn Professor Stoner die Gelegenheit nutzte, sobald wie möglich in den Ruhestand zu
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