Stoner: Roman (German Edition)
guteArbeit leisten wollte. Während der zehn Tage Weihnachtsferien ruhte er sich aus, als könnte er wieder Energie tanken, und als er für die letzten Semesterwochen zurückkehrte, ging er seine Aufgaben mit einer Kraft und einem Elan an, die ihn selbst überraschten. Die Frage seiner Emeritierung schien sich vorerst erledigt zu haben, und er machte sich nicht die Mühe, noch länger daran zu denken.
Ende Februar überkam ihn erneut eine große Mattigkeit, die er nicht abzuschütteln vermochte; er verbrachte viel Zeit zu Hause und erledigte einen Großteil seiner schriftlichen Arbeiten auf dem Ruhebett in seinem kleinen Hinterzimmer. Im März begann er einen dumpfen, unspezifischen Schmerz in Armen und Beinen zu spüren, sagte sich, dass er müde war und es ihm gewiss besser gehen werde, wenn die warmen Frühlingstage anfingen, dass er nur Ruhe brauchte. Im April konzentrierte sich der Schmerz auf den Unterleib; manchmal ließ Stoner ein Seminar ausfallen, und ihm fiel auf, dass es ihn enorme Kraft kostete, nur von einem Seminarraum zum anderen zu gehen. Anfang Mai wurde der Schmerz so heftig, dass er ihn nicht länger als lästige Bagatelle abtun konnte. Er ließ sich einen Termin bei einem Arzt am Universitätskrankenhaus geben.
Tests und Untersuchungen wurden gemacht sowie Fragen gestellt, deren Bedeutung Stoner vage erahnte. Man verschrieb ihm eine spezielle Diät, Tabletten gegen den Schmerz und sagte, er solle am Beginn der nächsten Woche wieder zur Sprechstunde kommen, da dann die Testergebnisse vorlägen. Er fühlte sich besser, doch die Mattigkeit blieb.
Sein Arzt war ein junger Mann namens Jamison, der Stoner erzählt hatte, dass er nur einige Jahre an der Universitätsklinikarbeite, um dann eine eigene Praxis aufzumachen. Er hatte ein rosiges, rundes Gesicht, trug eine randlose Brille und bewegte sich mit einer nervösen Unbeholfenheit, der Stoner vertraute.
Stoner kam einige Minuten zu früh zu seinem Termin, doch sagte man ihm am Empfang, dass er gleich durchgehen könne. Also ging er über den langen, schmalen Krankenhausflur zu der kleinen Kabine, in der Jamison sein Büro hatte.
Der Arzt wartete auf ihn, und Stoner sah, dass er dies schon seit einer Weile tat. Aktenblätter, Röntgenaufnahmen und Notizen lagen akkurat geordnet auf dem Tisch. Jamison stand auf, lächelte abrupt und wies nervös mit ausgestreckter Hand auf einen Stuhl vor seinem Tisch.
»Professor Stoner«, sagte er. »Setzen Sie sich doch. Setzen Sie sich.«
Stoner setzte sich.
Jamison betrachtete stirnrunzelnd die Anordnung auf seinem Tisch, strich ein Blatt Papier glatt und nahm dann Platz. »Nun«, sagte er, »es gibt da offensichtlich eine Art Blockade im unteren Darmtrakt, so viel ist klar. Auf dem Röntgenbild ist kaum etwas zu sehen, aber das muss nichts bedeuten. Na ja, ein kleiner Schatten, aber das hat nicht unbedingt etwas zu sagen.« Er drehte sich mit dem Stuhl um, heftete eine Röntgenaufnahme in einen Rahmen, knipste ein Licht an und deutete unbestimmt auf das Bild. Stoner sah hin, konnte aber nichts erkennen. Jamison machte das Licht wieder aus, drehte sich erneut zum Schreibtisch um und fuhr ganz geschäftsmäßig fort: »Ihre Blutwerte sind ziemlich niedrig, doch scheint es keine Entzündung zu geben; die Blutsenkung liegt unter normal, und der Blutdruck ist zu niedrig. Es gibt eine innere Geschwulst, die mir nicht gefällt, undSie haben deutlich an Gewicht verloren – tja, bei diesen Symptomen und dem, was ich daraus folgere« – er wies auf den Schreibtisch –, »würde ich sagen, dass uns nur eines zu tun bleibt.« Mit starrem Lächeln und bemühter Leutseligkeit sagte er: »Wir müssen Sie aufmachen und nachsehen, was da los ist.«
Stoner nickte. »Also ist es Krebs.«
»Nun«, sagte Jamison, »das ist ein sehr mächtiges Wort und kann ziemlich viel bedeuten. Ich bin mir eigentlich sicher, dass Sie da einen Tumor haben, aber – na ja, mit Bestimmtheit können wir das nur sagen, wenn wir nachsehen.«
»Wie lange habe ich ihn schon?«
»Ach, das lässt sich schwer beantworten, aber dem Gefühl nach – nun, die Geschwulst ist recht groß, also dürfte sie schon eine Weile da sein.«
Stoner schwieg einen Moment, dann fragte er: »Was schätzen Sie, wie lange bleibt mir noch?«
Wie in Gedanken erwiderte Jamison: »Ach, nun hören Sie auf, Mr Stoner.« Er versuchte zu lachen. »Wir sollten nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Es gibt immer noch Hoffnung – zum Beispiel die, dass es nur ein
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