Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
auf dem Fensterbrett, an der Wand hingen Reproduktionen von Gebirgslandschaften. Alles wirkte einfach, freundlich und sauber.
»Guten Tag, wer sind Sie?« Anna Herzog saß am Tisch, ihre Haut war wie Pergament, das graue Haar nach hinten gekämmt, die Stimme klar. »Entschuldigen Sie, ich muss einen Moment eingenickt sein.«
Baltasar stellte sich vor.
»Ein Pfarrer sind Sie? Wollen Sie mir etwa die Letzte Ölung erteilen? So weit ist es bei mir noch lange nicht. Ich will die Hundert voll machen, lange hab ich nicht mehr hin.«
»Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche. Ich würde gerne etwas über eine gewisse Ottilie Reisner wissen.«
»Ottilie Reisner.« Anna Herzog dachte nach. »Wissen Sie, ich bin schon eine Ewigkeit in dem Heim. Da habe ich viele kommen und gehen sehen. Wobei die meisten es nur bis zum Friedhof geschafft haben. Dort ist es schön, ich hab mir auch schon mein Plätzchen reservieren lassen. Aber ich sag Ihnen was, Herr Pfarrer, gehen wir ein Stück, wenn Sie mir helfen könnten, ich würde gerne wieder mal an die frische Luft.« Sie nahm ihren Gehstock und hakte sich bei Baltasar ein. »Auf geht’s.«
Es ging langsam voran, während Anna Herzog begann sich zu erinnern. »Über Ottilie wollen Sie etwas wissen, ist gut. Sie hatte ihr Zimmer schräg gegenüber von meinem. Am Anfang war sie sehr zurückhaltend, aber wir haben uns angefreundet, haben gern zusammen ein Glas Wein getrunken oder gemeinsam Fernsehen geschaut.«
Sie nahmen den Aufzug ins Erdgeschoss. Baltasar erzählte ihr von den Totenbrettern und den Namen darauf und was er bisher erfahren hatte.
»Sie wollen also mehr über die beiden wissen. Es war eine traurige Geschichte. Ottilie hat sie mir nach und nach erzählt. Wir haben hier sehr viel Zeit zum Geschichtenerzählen, wissen Sie.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Ottilie stammte von einem Bauernhof, sie war das dritte von fünf Kindern. Die Familie hielt sich mehr schlecht als recht über Wasser, das Sacherl warf nicht viel ab. Der älteste Sohn sollte einmal den Hof erben, während die anderen früh aus dem Haus und sich eine Arbeit suchen mussten. Die Kinder an weiterführende Schulen zu schicken, daran war damals nicht zu denken. Man war froh, einen Esser weniger im Haus zu haben. Und die Frauen sollten sowieso möglichst bald heiraten und einen Haushalt führen.«
Sie betraten den Garten. Anna Herzog knöpfte ihre Jacke zu. »Schaffen wir’s bis zur Parkbank, Herr Pfarrer?« Sie zeigte auf eine Bank, die in zwanzig Meter Entfernung stand. »Ich hab schon so lange nicht mehr dort gesessen. Meine Hüfte und meine Knie wollen nicht mehr richtig, jetzt bin ich froh, dass ich eine so fesche Herrenbegleitung habe.« Sie kicherte. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Ottilie fand erst nach langem Suchen eine Anstellung als Magd auf einem Bauernhof. Die Bezahlung war schlecht, die Arbeitszeiten lang, sie war der Fußabstreifer für jeden. Aber damals war man froh, überhaupt eine bezahlte Arbeit zu haben. Es ging jedoch nicht lange gut, sie wechselte auf einen anderen Bauernhof, wechselte wieder und wieder.«
»Und dann traf sie Ludwig Auer?«
»Geduld, junger Mann, Geduld.« Sie hatten die Bank erreicht, Baltasar stützte Anna Herzog beim Hinsetzen. »Gott, ist das schön. Draußen in der Natur sieht alles gleich herrlicher aus als von meinem Zimmerfenster.« Sie schloss die Augen. »Hören Sie die Vögel? Ich glaube, es ist eine Amsel.« Sie öffnete ihre Augen wieder. »Ottilie war schon Ende dreißig, aber sie hatte noch immer keinen Mann fürs Leben gefunden. Nur Männer, die ihr Versprechungen machten und sie danach sitzen ließen. Deshalb hatte sie es aufgegeben, nach der großen Liebe zu suchen. Dann lief ihr Ludwig Auer über den Weg, der einen Bekannten auf dem Bauernhof besuchte, auf dem sie arbeitete. Ottilie war von dem älteren Mann angetan. Er fand Gefallen an ihr und überredete sie, zu kündigen und auf seinem Bauernhof zu arbeiten, auf genau dem Grundstück, das nun der Familie Schindler gehört.«
»Die beiden wurden ein Liebespaar.«
»Herr Pfarrer, Sie sind mir ja einer, Sie können es kaum erwarten.« Sie schmunzelte. »Es war etwas komplizierter. Auer hatte daheim eine kranke Frau, die bettlägerig und pflegebedürftig war. Ob die beiden in der Zeit … Sie wissen schon, was ich meine … Ottilie jedenfalls redete nicht über dieses Thema, so sehr ich sie auch bedrängte. Es dauerte zwei Jahre, bis seine Ehefrau starb. Aber eine neue
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