Strafzeit
wog zweifelnd den Kopf und schaute auf den im Eingangsbereich des Lokals hängenden Fernseher, der in den Siebzigerjahren viel Aufsehen erregt hatte: Man konnte mit ihm vier Programme gleichzeitig schauen. Das Hauptprogramm auf dem großen Monitor und darunter in Miniatur drei weitere Sender. ARD, ZDF, Südwest 3 – und dann war in Ermangelung weiterer deutscher Programme schon die Schweiz eingestellt gewesen. Heute gab es zwar Hunderte von Sendern, aber der Fernseher befand sich schon seit Jahren im Ruhestand. Auch das gesamte Bistro, so munkelte man, würde in absehbarer Zeit schließen müssen. Die Alten ließen sich immer seltener hier sehen, die Jungen gingen vielfach zum Studieren in die Metropolen, und die ganz Jungen hatten andere Etablissements auserkoren – sah man mal von Martina und ihren Früchtchen ab …
Auch Hubertus fühlte sich plötzlich alt und müde. Und melancholisch. So sehr, dass er jetzt nicht über den Fall reden wollte. Er legte Klaus (»zu deiner eigenen Sicherheit«) lediglich kurz nahe, Frau Willy vorläufig nicht mehr zu belästigen – zumindest nicht bis nach dem entscheidenden Spiel.
Da Klaus unbedingt mit dem Fall weiterkommen wollte, verabredeten sie sich nach längerem Hin und Her für den nächsten Tag zu einem Besuch bei Frau Mielke in Pfaffenweiler.
Hubertus gähnte. Er musste nach Hause. Schließlich waren noch Stundenvorbereitungen für die Klasse, die er zusätzlich übernommen hatte, zu tätigen.
»Ich glaub, ich muss dich jetzt allein sitzen lassen«, sagte er.
Doch auch Klaus hatte keine rechte Lust mehr. Nicht mal von Edelbert war etwas zu sehen. Wahrscheinlich triezte er seine Schauspieler bei den Proben wieder bis spät in die Nacht.
Sie zahlten und verließen das Bistro. Es war kurz nach halb zwölf. Die Niedere Straße war menschenleer. Nur die aufgehäuften Berge von vereistem Altschnee glitzerten im fahlen Schein der modernen Straßenlaternen.
Einige Minuten später standen sie wieder am Kadett.
»Klausi«, meinte Hubertus, »lass uns die Sache mit Frau Mielke ein wenig verschieben. Ich habe ja schließlich noch einen Beruf und andere Dinge zu erledigen.«
»Psssst!«, machte Klaus. »War da nicht was?«
»Genau, der Wind. Lass uns nach Hause fahren.«
Doch Klaus brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das war ein Stöhnen.«
»Ein Stöhnen hast du allenfalls im Bordell hören können«, scherzte Hummel müde.
Riesle beachtete ihn nicht mehr. Er lief die wenigen Meter in Richtung der Brigach – des Flüsschens, das Villingen durchzog.
Hubertus schlug die Autotür wieder zu und folgte ihm.
Auf dem Hosenboden rutschten sie die steile Böschung hinunter.
Unten lag ein Mann in völlig durchnässter Kleidung, der immer noch leise vor sich hin stöhnte.
»Sicher ein betrunkener Obdachloser, der in die Brigach gefallen ist«, mutmaßte Hubertus. »Lass mich mal machen. Der erfriert ja bei dieser Kälte.«
Hummel beugte sich fachmännisch über den Mann. Schließlich hatte er eine Ausbildung als Rettungshelfer, die er damals, vor gut fünfundzwanzig Jahren, während seines Zivildienstes beim Malteser-Hilfsdienst absolviert hatte.
Das Problem war nur: Die meiste Zeit war Hubertus im Behindertenfahrdienst tätig gewesen. Die echten Notfälle hatten sich an einer Hand abzählen lassen – und auch da war er lieber im Hintergrund geblieben.
Starke Erinnerungen an Blaulicht und Martinshorn hatte er hauptsächlich von seinem ersten Zivitag. Damals hatte ihm ein Kollege ein kleines Gießkännchen in die Hand gedrückt und ihn gebeten, die Blaulichtflüssigkeit auf dem Krankenwagen nachzufüllen. Als er tatsächlich versucht hatte, auf den Wagen zu klettern, um am Blaulicht herumzuschrauben, hatte er schallendes Gelächter geerntet. Ein dummer Scherz für Neulinge.
»Hallo, hören Sie mich?«, sprach er den Mann an. Als der, nun offenbar bewusstlos, nicht einmal auf ein paar leichte Backpfeifen von Klaus reagierte, meinte Hubertus: »Stabile Seitenlage« und versuchte, die Gestalt umständlich umzubetten.
»Blödsinn!«, sagte Klaus. »Fass mal mit an.«
Gemeinsam schleppten sie den Bewusstlosen die kleine Böschung hoch bis zum Auto. Die beiden sahen sich den Ohnmächtigen, der am Kopf blutete, einmal genauer an. Eigentlich wirkte er gar nicht wie ein Obdachloser. Er hatte kurze blonde Haare, schien gepflegt zu sein und trug eine Barbour-Jacke, darunter ein Sweatshirt und schwarze Jeans.
Hubertus beugte sich nochmals über ihn. »Nach
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