Strange Angels: Verraten: Roman (PAN) (German Edition)
Bewegung setzten. Graves sprang vorwärts, und ich musste mitkommen, wenn ich mir nicht den Arm ausreißen lassen wollte. Meine Füße glitschten auf dem Laub und der Erde. Angst jagte mir durch den Leib, legte mir Kupfer auf die Zunge.
Graves zog mich. Ich hatte reichlich zu tun, um Bodenkontakt zu halten. Derweil bildeten die anderen Wölfe fließende, springende Formen, und ich fing an, mich verflucht unwohl bei dieser Sache zu fühlen.
Wir hetzten einen bewaldeten Hügel hinauf und von dort einen Abhang mit Felsen und Baumwurzeln hinunter, an dem kahle Eichen und Ahornbäume standen, nass und dunkel, die sich in den Boden krallten, damit sie nicht hinunterrutschten. Graves riss mich mit sich. Als wir den Hügelkamm überquert hatten, lockerten seine Finger sich und glitten von meinen.
Ich fiel. Mein Fuß traf auf einen Stein, rutschte weg, und ich wusste, dass ich stürzen würde. Mein Herz setzte aus, ich brüllte kurz auf …
… und die Welt rastete ruckartig ein. Mein anderer Fuß landete fest auf einem hervorstehenden Stein, den ich vorher gar nicht gesehen hatte, und mein Körper erwachte kribbelnd zum Leben. Die Gabe flutete mich wie Alkoholhitze einen leeren Magen: wie der Jim Beam mit Cola, den ich früher getrunken hatte, wenn ich wartete, dass Dad nach Hause kam und mich holte. Hitze strömte durch mich hindurch; meine Zähne wurden hyperempfindlich, und sogar mein Haar kitzelte. Moms Medaillon verwandelte sich in einen glühenden Klumpen, als würde es mir an der Brust schmelzen.
Wer kennt nicht das Gefühl, so schnell zu rennen, dass einem der Brustkorb zu zerbersten droht? Dass man nur noch aus seinen Beinen und dem Wind in den Ohren zu bestehen scheint, der sich mit dem Hämmern des eigenen Pulses vermischt. Endorphine überschwemmen einen, wenn man es lange genug durchhält, und auf einmal denkt man nicht mehr. Der Körper übernimmt das ganze Denken. Er springt wie eine Gazelle, tanzt wie ein Stern, und der einzige Gedanke, den man noch zustande bringt, ist: Gott, lauf weiter, werde ja nicht langsamer, lass das nie aufhören!
Rennen. Mit Werwölfen. Ihre Konturen flirrten um mich herum. Das hohe unwirkliche Heulen wurde von der Geschwindigkeit verzerrt, und Sonnenlichttupfer blinkten auf ihrem Fell und in ihren Augen, während wir uns wie eine geschlossene Masse bewegten. Sie bildeten einen Kreis um mich wie beim Fadenspiel, und hätte ich Zeit gehabt, wäre mir die Frage in den Sinn gekommen, wer eigentlich die Richtung bestimmte. Aber mir reichte es völlig, dass ich rannte. Solange ich nichts anderes tat, als zu rennen, war der Rest egal. Ich musste weder an Mom, Dad, Gran, Christophe noch die anderen hundert Dinge denken, die in meinem übervollen Kopf lauerten. Ich durfte einfach sein. Es ähnelte diesem Platz in der Mitte des Tai Chi, wenn die Welt sich zurückzog und es nur noch die Bewegung gab, wenn Kraft und Reaktion durch Arme und Beine flossen, die meine Hände zu Vögeln und meine Füße zu Pferdehufen machten.
Wir erreichten einen weiteren Hügel. Die Welt drehte sich unter mir. Ich brauchte nicht einmal vorwärtszupreschen, sondern lediglich die Füße ab und zu aufzutippen. Sowie ich den leisen Flügelschlag von Grans Eule hörte, durchfuhr mich eine übermächtige Freude, die sich viel reiner anfühlte als der rasende Bluthunger. Ich war klar. Ich war durchsichtig, ein kristallenes Mädchen. Und das war das Allerbeste auf der Welt.
Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, aber die Kraft verpuffte. Es wurde zusehends schwieriger, mit der Welt mitzuhalten, aber ich strengte mich an, so gut ich konnte, als plötzlich jemand meinen Arm packte und die Bilder abrupt anhielten.
Ich fiel unsanft auf meine Knie, keuchend und würgend. Jemand plumpste neben mich und klopfte mir auf den Rücken. Ein paar andere husteten ebenfalls.
»Meine Fresse!«, japste jemand mit einer hohen Jungenstimme. Jemand anders lachte, hoch und arrhythmisch, aber es übertrug sich auf die Übrigen. Zwischen dem Würgen und dem Signal meines Magens, ich hätte das verflucht noch eins nicht tun sollen, blubberte auch in mir ein Lachen auf.
Meine Beine standen in Flammen. Ich brannte von Kopf bis Fuß, und mein Rücken tat höllisch weh. Doch das machte nichts.
Was zählte, war, dass Graves neben mir hockte, mir den Rücken rieb und lachte, als wären Weihnachten und Geburtstag an einem Tag über ihn gekommen. Dibs kniete auf der anderen Seite neben mir und lehnte sich hustend an mich. Seine Augen
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