Strasse der Sterne
Jahres- oder Tageszeit, man musste immer mit dem Boot übersetzen. Ebenso war alles, was man brauchte, gleichermaßen mühselig auf die Donauinsel zu schaffen. Jedes Mal, wenn ihr Vetter von dort in die Wahlenstraße zurückkehrte, erschien er ihr völlig fremd - ein Mann, der in einer Welt lebte, zu der ihr jeder Zutritt verwehrt war.
»Nur die ersten fünf Wagen«, rief Heinrich Weltenpurger den Knechten zu, die bereits mit dem Ausladen begonnen hatten. »Schont eure Knochen - an der Schiffslände werdet ihr noch genügend Kraft brauchen!«
Ein flachshaariger Bursche, erst ein paar Monate in Heinrichs Diensten, schien ihn nicht gehört zu haben. Ihn riss der Kaufmann regelrecht von der Plane zurück. »Bist du taub, Junge? Den letzten Wagen rührt mir keiner an, verstanden?«
Er wandte sich suchend um. »Tariq?«
»Señor?«
»Den nimmst du dir allein vor und bringst alles in das oberste Turmzimmer. Aber vorsichtig! Wenn du fertig bist, schließt du ab. Du persönlich bürgst mir für den Schlüssel.«
Der Maure deutete eine Verneigung an. »Wie gewünscht, Señor«, sagte er leise.
*
Er hielt sie seit langem wieder einmal in der Hand, jene leicht vergilbten Blätter, die er sonst in der dicken Ledermappe verwahrte. Die Herrin hatte sie ihm übergeben, bevor sie gegangen war, mit ihrem halben Lächeln, das ihm seit langem vertraut war.
»Dorthin, wo ich künftig leben werde, kann ich sie nicht mitnehmen«, sagte sie. »Einmal schon wären sie fast mein Todesurteil geworden. Aber vernichten kann ich sie auch nicht. Es soll doch nicht alles umsonst gewesen sein!«
Tariq schwieg. Er liebte und verehrte sie, aber er verstand sie nicht. Welchem Gott wollte sie dienen, der solche Opfer forderte?
Sie schien zu wissen, was er dachte.
»Du hast ja Recht, Tariq. Eigentlich gehöre ich nirgendwohin, nicht hierher und auch nicht mehr nach León. Deshalb kann ich ebenso gut zu denen zurückkehren, die ich einst verlassen habe.«
»Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss«, sagte er. »Niemand kann die Zeit zurückdrehen.«
»Deshalb möchte ich, dass du das Geschriebene für mich aufbewahrst. Um es eines Tages Pilar zu geben.« Eine Frau, groß und schlank, voller Feuer. Noch immer so schön mit ihrem weißen Haar und dem stolzen Gang, dass ihr alle Blicke folgten. Tariq vermochte nicht zu begreifen, warum sie sich dafür hasste. »Eine Art Vermächtnis, wenn du so willst. Pilar wird es lesen. Wenn sie alt genug ist, zu verstehen.« Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Ich habe es für sie übersetzt. Und mich dabei noch einmal wund gestoßen an den Gefühlen der jungen Frau, die ich damals war.«
»Und der Señor?«
»Heinrich? Ich habe ihm schon mehr als genug zugemutet. Nein, du musst mir versprechen, dass er es niemals zu Gesicht bekommt.«
»Willst du, dass ich auf mein Leben schwöre?«
»Du weißt, dass die Reinen jeden Schwur ablehnen. Es genügt, wenn du es mir versprichst. Du hast mich noch niemals belogen.«
Sie strich sich das Haar zurück. Plötzlich war sie nicht mehr so sicher, wie sie sich vor ihm gab.
»Bitte, sieh mich nicht an wie eine Ehebrecherin! Der Einzige, der mich dessen bezichtigen könnte, wäre Gott, und dieses Vergehen, das ich einmal an ihm begangen habe, will ich ja gerade wieder gutmachen.«
Sie hatte das Wort ausgesprochen, das alles zerstört hatte. Sofort sah er sie wieder vor sich, die biegsame Gestalt seiner Mutter, und er hörte ihre weiche Stimme - bis zu dem Tag, an dem man sie wie eine räudige Hündin in einen Sack gesteckt und fortgeschafft hatte. Am selben Tag hatte die Herrin ihn bei sich aufgenommen. Seitdem gehörte sein Leben ihr.
Bis heute hatte er das Vermächtnis als seinen heiligsten Schatz gehütet. Als das Augenlicht Pilars nach und nach erlosch, war er immer wieder versucht gewesen, es ihr zu übergeben. Hatte sie kein Anrecht darauf?
Er hatte es oft vorgehabt und nie über sich gebracht. Nächstes Jahr, hatte er sich immer wieder gesagt, dann wird sie alt und verständig genug sein. Inzwischen wusste er, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Pilar war erwachsen - und blind. Selbst würde sie nie mehr das Vermächtnis ihrer Mutter lesen können.
Wer aber sollte es ihr zu Ohren bringen?
Er beschäftigte sich nicht gern mit dieser Frage, auf die es nur eine Antwort gab. Die Herrin hatte ihm beigebracht, ihre Schrift zu entziffern, jene ungeduldigen, steil hingeworfenen Buchstaben, die kriegerisch wirkten und nichts gemein hatten mit der
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