Straße der Toten
leere Straße entlang. Er sah keine Menschenseele. Nur ganz am Ende die Kirche, die ihm wie ein rettender Leuchtturm erschien, mit ihrem weißen Kreuz hoch oben auf dem Dach, das im Mondlicht einen schwarzen kreuzförmigen Schatten auf die Straße warf.
Matt keuchte vor Anstrengung, das Ding hinter ihm schnaufte ebenfalls, und er fühlte, dass es ihn schon fast eingeholt hatte, bereit zum letzten Sprung, bereit, sich auf ihn zu stürzen, und das gab ihm neue Kraft, er rannte schneller, obwohl er mittlerweile heftiges Seitenstechen hatte, aber er rannte weiter, immer mit dem Gefühl des heißen, feuchten Atems seines Verfolgers im Nacken.
Er verlor seinen Hut. Er schnappte nach Luft. Und war kurz vor der Kirche.
Die Häuser links und rechts schienen sich vorzubeugen und ihn vorwärtsschubsen zu wollen – sie ragten schräg, in unmöglichem Winkel, über seinen Kopf hinweg. Es war irgendwie dunkler als sonst, und stiller; er hörte überhaupt nichts außer seinem eigenen Atem und dem seines wie auch immer gearteten Verfolgers.
Da gelangte er in den Schatten des Kreuzes, und ihm war, als umwehe ihn ein warmer Wind. Er rannte die Kirchentreppe empor, und auf der obersten Stufe drehte er sich mit einem Ruck um, den Revolver in der Rechten, und sah ...
... nichts.
Nur die leere Straße. Und mittendrin lag sein Hut.
Mit den Gebäuden war alles in Ordnung. Keines war schief gebaut, und keines ragte über die Straße hinweg. Es brannten genauso viele Lichter wie immer, und von Weitem hörte er das Stimmengewirr im Café, und im Saloon hatte sich zu guter Letzt jemand ans Klavier gesetzt.
Matt lehnte sich gegen die Kirchentür und kam wieder zu Atem. Sein verzerrtes Gesicht verwandelte sich allmählich in ein ironisches Grinsen. Schließlich setzte er sich auf den Hosenboden und lachte über sich selbst. Und steckte den Revolver zurück ins Holster.
»Nichts«, sagte er. »Überhaupt nichts, verdammt noch mal.«
Genau in dem Moment ertönte ein langgezogenes, unheimliches Heulen, das durch die Straße hallte und sich dabei immer mehr wie ein heiseres, gehässiges Lachen anhörte.
Acht
Nach einer Weile entfernte sich der Sheriff vorsichtig von der Kirche und hob seinen Hut auf. Als er ihn gerade aufsetzen wollte, entfuhr ihm ein Schrei.
Die Hutspitze war sauber abgebissen.
Mit dem Hut in der Hand floh der Sheriff zurück zum Gefängnis.
Neun
Der tote Glücksspieler konnte am besten gehen, und Millie kam auch ganz gut vorwärts, obwohl sie einen Schuh verloren hatte.
Die anderen taten ihr Möglichstes, Millie einzuholen, doch der Spieler hatte lange Beine und schritt rasch voran.
Er ging weit voraus, als wolle er einen Wettlauf gewinnen. Während die Nacht sich ihrem Ende näherte und der Himmel allmählich heller wurde, wurden die anderen langsamer, nicht aber der Spieler. Er ging schneller.
Millie schlug sich seitlich in die Büsche, kam zuletzt auf ein Feld und sah am anderen Ende den Umriss eines Hauses. Sie erkannte das Haus nicht wieder. Das Haus, in dem sie mit ihrer Schwester wohnte, mit Buela, die krank vor Sorge um sie war, die sich ständig fragte, was mit ihr und der Kutsche geschehen sein mochte. Aber auch das kam Millie nicht in den Sinn. In Millies Geist herrschten nur noch die Instinkte eines niederen Tieres, und denen folgte sie.
Still und dunkel lag das Haus vor ihr. Am Horizont schaute zaghaft die Sonne hervor wie ein neugieriges blondes Baby, das seinen Kopf emporreckt.
Die Frau mit nur einem Schuh gelangte an die außen liegende Kellertür. Sie betrachtete das Haus und spürte die menschliche Wärme dort – und dass sie hungrig war.
Ein Blick zum Horizont. Das blonde Köpfchen bewegte sich immer weiter empor, Lichtstrahlen flossen wie feines Haar über den Himmelsrand.
Sie öffnete die schräge Tür zum Keller, stieg die wenigen Stufen hinab und klappte die Tür wieder hinter sich zu.
In diesem Landstrich grub man eigentlich keinen Keller. Der Boden war zu feucht, und so hatte man den nassen Raum sich selbst überlassen, und er hatte sich mit Brackwasser gefüllt.
Millie machte das nichts aus. Nur die Sonnenstrahlen machten ihr noch etwas aus. Und das quälende Verlangen, das in ihr nagte und sich in ihrem Kopf zu einem einzigen Gedanken formte: Sie musste etwas essen, und zwar bald.
Langsam ließ sie sich ins Wasser gleiten, bis es über ihrem Kopf zusammenschlug. Eine Wassermokassinschlange huschte eilig davon. Der Dreck und die Maden wurden aus ihrem Haar und ihrem Fleisch
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