Straße der Toten
zusammenrücken. Sein erschöpftes Pferd schritt mit gesenktem Kopf voran, und Jebidiah, zu schwach um es zu lenken oder anzutreiben, ließ ihm seinen Willen. Vor Müdigkeit wusste der Reverend kaum noch, wo er war, aber eines wusste er: Er war ein Mann des Herrn. Und er hasste Gott. Er hasste diesen Scheißkerl von ganzem Herzen.
Er wusste auch, dass Gott das wusste, und dass es ihm egal war, denn Jebidiah war sein Sendbote. Keiner aus dem Neuen Testament, sondern einer aus dem Alten: gnadenlos und unerbittlich, rachsüchtig und kompromisslos. Ein Mann, der Moses die Beine unterm Hintern weggeschossen und dem Heiligen Geist ins Gesicht gespuckt und ihn skalpiert hätte, nur um die himmlische Haarpracht in alle vier wilden Winde zu schleudern.
Jebidiah war nicht freiwillig ein finsterer Gottesbote geworden, aber dies war nun einmal sein Schicksal. Er hatte es verdient, weil er gesündigt hatte, und wie sehr er auch versuchte, diesem Los den Rücken zu kehren, es gelang ihm nicht. Denn er wusste, wenn er alles hinwarf und sich seiner gottgegebenen Strafe entzog, würde er auf ewig in der Hölle schmoren. Er musste weiterhin tun, was Gott ihm befahl, ganz gleich, welche Gefühle er gegenüber seinem grausamen Herrn hegte. Sein Gott war kein versöhnlicher Gott und auch kein Gott, den es kümmerte, ob seine Geschöpfe ihn liebten. Wichtig waren ihm allein Gehorsam, Unterwürfigkeit und Demut. Dazu hatte Gott den Menschen erschaffen – zu seinem Vergnügen.
Während Jebidiah solchen Gedanken nachhing, wurde der Pfad hinter einer Biegung breiter und öffnete sich zu einer großen Lichtung. Mittendrin standen, umgeben von Baumstümpfen, ein kleines Blockhaus und eine etwas größere Scheune. Im Fenster der Hütte schimmerte durch einen Vorhang aus Sackleinen gelbes Licht. Jebidiah war müde, hungrig, durstig und Gott und der Welt überdrüssig, also hielt er darauf zu.
Kurz vor der Hütte brachte er sein Pferd zum Stehen, beugte sich im Sattel vor und rief: »Hallo, jemand da?«
Er wartete eine Weile, rief noch einmal, und genau in dem Moment öffnete sich die Tür. Ein kleiner Mann mit einem großen Schlapphut und einem Gewehr in der Hand spähte zur Tür heraus und sagte: »Wer blökt denn hier herum wie ein Ochsenfrosch?«
»Reverend Jebidiah Mercer.«
»Sie sind hoffentlich nicht zum Predigen hier, oder doch?«
»Nein, Sir. Das bringt sowieso nichts. Ich wollte Sie fragen, ob in Ihrer Scheune noch Platz für mich ist – nur eine Nacht lang. Und ob Sie für mein Pferd und für mich etwas zu essen haben. Ganz egal was, solange nur Wasser dabei ist.«
»Was sagt man dazu«, erwiderte der Mann. »Heute versammelt sich alle Welt bei mir. Zwei sind schon hier. Wollten uns grad zum Essen hinsetzen. Ist genug da, wenn Sie auch was wollen. Heiße Bohnen und altes Brot.«
»Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Sir«, sagte Jebidiah.
»Fühlen Sie sich verpflichtet, so viel Sie wollen. Steigen Sie erst mal vom Gaul, bringen Sie ihn in die Scheune und kommen Sie dann zum Essen ins Haus. Mich nennt man Old Timer, aber so alt bin ich noch gar nicht; mir sind nur schon so viele Zähne rausgefallen, und eins meiner Beine ist verkrüppelt, seit mir ein Pferd draufgetrampelt ist. Innen an der Scheunentür hängt ’ne Laterne, die können Sie anzünden. Aber machen Sie sie wieder aus, wenn Sie fertig sind und rüber ins Haus kommen.«
Jebidiah striegelte sein Pferd, gab ihm Wasser und etwas von dem Getreide, das er in der Scheune fand, und ging dann zur Hütte. Er schob seinen langen schwarzen Mantel so zurück, dass die Elfenbeingriffe seiner zu Hinterladern umgebauten 44er Revolver sichtbar waren. Sie steckten leicht nach vorne geneigt in den Holstern, und er hatte sie auf Hüfthöhe umgeschnallt, nicht so tief hängend, wie Ganoven sie für gewöhnlich tragen. Jebidiah hatte sie gerne auf dieser Höhe, damit er nicht erst die Arme danach ausstrecken musste. Schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris konnte er sie ziehen, die Hähne klickten, wenn er sie mit dem Daumen spannte, und schon bellten sie los und spuckten mit erstaunlicher Genauigkeit Blei. Er hatte lange genug geübt, um aus hundert Schritt Entfernung einen Korken in eine Flasche zu treiben, und das sogar bei schlechtem Licht. Er wollte seine Waffen zeigen, um deutlich zu machen, dass er für einen möglichen Hinterhalt gewappnet war. Seinen breitkrempigen schwarzen Hut schob er sich aus der Stirn, und darunter lugte schwarzes Haar mit einigen grauen
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