Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Missbildung aufweisen, entweder besaß er keine Nase oder eine eingedrückte Stirn. Trotz der ernsthaften Absicht, Laramie oder Our Miss Brooks zu sehen, würde man seinen Blick nicht vom erstaunlich verunstalteten Körper seines Nachbarn abwenden können. Unmöglich. Hin und wieder stellte sich heraus, dass der Mann keine Zunge hatte. In diesem Fall würde er sicherlich versuchen, einen in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln. All das war äußerst unbefriedigend.
Es dauerte ungefähr eine Woche, bis diese Marter ein Ende hatte und wir an einem blauen, funkelnden See umgeben von kieferbestandenen Bergen, anlangten, an einem Ort voller Leben und Vergnüglichkeiten, mit dem ausgelassenen Kreischen von Kindern, die im Wasser plantschen. Ein Ort, der für das Gewesene beinahe entschädigte. Dad wurde lustig und großzügig und nahm uns manchmal sogar in eines dieser Restaurants mit, in denen man nicht zusehen muss, wie das Essen zubereitet wird, und wo man Wassergläser serviert bekommt, die nicht mit Lippenstift signiert sind. Das war Leben. Das war berauschende Üppigkeit.
Trotz dieser beunruhigenden und wechselhaften Vorgeschichte erfasste mich das eigentümliche Verlangen, in das Land meiner Jugend zurückzukehren und das zu unternehmen, was die Verfasser von Klappentexten gern eine Entdeckungreise nennen. Auf einem 4000 Meilen entfernten Kontinent packte mich das Heimweh, das einen überkommt, wenn man die Mitte seines Lebens erreicht und vor kurzem seinen Vater verloren hat, und wenn einem klar wird, dass er etwas von einem selbst mit sich nahm, als er starb. Ich wollte die verzauberten Orte meiner Jugend wiedersehen – Mackinac Island, die Rocky Mountains, Gettysburg – und feststellen, ob sie der guten Erinnerung entsprachen, in der ich sie behalten hatte. Ich wollte in einer stillen Nacht das lang gezogene, tiefe Tuten einer Rock-Island-Lokomotive hören und ihrem Geklapper lauschen, bis es in der Ferne verklingt. Ich wollte Leuchtkäfer sehen und das Zirpen der Zikaden hören und mich kopfüber in das heiße Augustwetter stürzen, das einen verrückt macht und die Unterwäsche wie Latex am Körper kleben lässt, das besonnene Männer dazu bringt, in einer Bar eine Waffe zu ziehen und die Nacht mit Gewehrfeuer zu erhellen. Ich wollte nach Ne-Hi-Pop- und Burma-Shave-Schildern suchen, zu einem Baseballspiel gehen, in einem Café mit Marmorwänden sitzen und durch jene Kleinstädte fahren, die man aus den Filmen mit Deanna Durbin und Mickey Rooney kennt. Ich wollte reisen. Ich wollte Amerika sehen. Ich wollte heimkehren.
So flog ich also nach Des Moines und besorgte mir einen Stapel Straßenkarten, die ich auf dem Fußboden im Wohnzimmer studierte. Ich stellte eine gewaltige Rundreise zusammen, die mich durch dieses eigenartige, riesige und halbwegs fremde Land führen würde. In der Zwischenzeit strich meine Mutter mir Sandwiches und sagte »Oh, das weiß ich nicht, mein Schatz«, wenn ich ihr Fragen über die Ferien meiner Kindheit stellte. Und im Morgengrauen eines Septembertages in meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr schlich ich aus dem Haus meiner
Kindheit, rutschte hinter das Lenkrad eines bejahrten Chevrolet Chevette, den mir meine gütige und vertrauensvolle Mutter geliehen hatte, und steuerte ihn durch die schlafenden, ebenen Straßen. Ich fuhr über den leeren Freeway – der einzige Mensch mit einer Mission in dieser Stadt von 250 000 schlafenden Seelen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und versprach einen glühend heißen Tag. Vor mir lagen ungefähr eine Million Quadratmeilen leise rauschenden Korns. Am Stadtrand bog ich auf den Iowa Highway 163 und fuhr leichten Herzens in Richtung Missouri. Es passiert nicht oft, dass man jemanden so etwas sagen hört.
2
In England war es ein Jahr ohne Sommer gewesen. Ein rauer Herbst hatte unmerklich den verregneten Frühling abgelöst. Monatelang zeigte sich der Himmel in einheitlichem Grau. Manchmal regnete es, aber meistens war es nur trübe; ein Land ohne Schatten. Es war, als lebte man in einer Tupperdose. Und hier blendete die Sonne plötzlich in ihrer ganzen Intensität. Iowa schäumte über vor Farbe und Licht. Die Scheunen am Straßenrand erstrahlten in leuchtendem Rot, der Himmel in tiefem, hypnotisierendem Blau. Vor mir erstreckten sich senffarbene und grüne Felder, und über der Straße tanzten flimmernde Flecken. Hier und da traf das Sonnenlicht auf einen Getreideheber in der Ferne – die Kathedralen des Mittleren Westens, die
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