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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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fiel.
Er lebte. Sein linker Arm war auf seltsame Weise hinter seinen Körper gedreht, und auf der Stirn fehlte ein Hautlappen, doch versuchte er wegzukrabbeln. Er kam fünfzig, sechzig Zentimeter voran, bevor er zusammenbrach und sich schwer atmend auf den Rücken rollte.
Roland.
Er spuckte etwas Blut, öffnete ein Auge und sah mich an. Unter der Maske von Blut begann das andere Auge schon anzuschwellen. »Ich bring’ dich um«, keuchte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Es gelang ihm, sich aufzusetzen, indem er sich auf den unverletzten Arm stützte. »Ich bring’ dich um. Und die Nutte auch«, fuhr er fort.
Angie trat ihm in die Rippen.
Trotz seiner Schmerzen wandte er ihr den Kopf zu und grinste: »‘tschuldigung.«
Ich fing an: »Roland, du hast da was falsch verstanden. Wir sind nicht dein Problem. Socia ist dein Problem.«
»Socia ist tot«, brachte er hervor, und man konnte hören, daß einige von seinen Zähnen kaputt waren. »Er weiß es nur noch nicht. Die meisten Saints laufen zu mir über. Jetzt hol’ ich mir Socia. Er hat den Krieg verloren. Braucht sich nur noch seinen Sarg auszusuchen.«
Dann schaffte er es, beide Augen zu öffnen, nur ganz kurz, und ich verstand, warum er mich töten wollte.
Er war der Junge auf den Fotos.
»Du bist der…«
Er heulte mich an, aus seinem Mund schoß ein Blutstrahl, er versuchte sich auf mich zu stürzen, obwohl er nicht mal vom Boden hochkam. Er trat nach mir und schlug mit der Faust auf die Steine, wobei er sich die Glassplitter noch tiefer in Haut und Knochen trieb. Das Geheul wurde lauter. »Ich leg’ dich um«, schrie er. »Ich leg’ dich um!«
Angie sah mich an. »Wenn wir ihn leben lassen, sind wir beide tot.«
Ich dachte darüber nach. Nur ein einziger Schuß. Hier draußen am Rande der städtischen Einöde, wo keiner dabei war, der Fragen stellte. Ein Schuß, und wir brauchten uns keine Gedanken mehr über Roland zu machen. Sobald wir das mit Socia geregelt hätten, könnten wir wieder zu unserem Alltag zurückkehren. Ich blickte auf Roland hinunter, der den Rücken krümmte und ruckartig versuchte aufzustehen, wie ein blutiger Fisch auf einem Zeitungspapier. Allein sein Versuch jagte mir eine Scheißangst ein. Roland schien keinen Schmerz und keine Angst zu kennen, nur noch blinden Trieb. Ich sah ihn ruhig an, dachte darüber nach und erkannte dann irgendwo in dieser rasenden, unförmigen Ansammlung von Haß das nackte Kind mit den toten Augen. Ich antwortete: »Er ist schon längst tot.«
Angie stand mit nach unten weisender Pistole über ihm, der Hahn war nach hinten gezogen. Roland starrte sie an, sie blickte ausdruckslos zurück. Aber sie konnte es auch nicht tun und wußte, daß das nicht zu ändern war, egal wie lange sie dort stand. Sie zuckte mit den Achseln und sagte zu ihm: »Schönen Tag noch.« Dann gingen wir vier Häuserblöcke entlang nach Westen in Richtung Melnea Cass Boulevard. Sie glänzten wie der Inbegriff der Zivilisation.

27_____
    Wir winkten einen Bus heran und stiegen ein. Alle Passagiere waren schwarz. Als sie uns mit unseren blutigen, zerrissenen Klamotten sahen, dachten sich die meisten von ihnen irgendeinen Vorwand aus, um nach hinten zu gehen. Der Busfahrer schloß die Tür mit einem weichen Geräusch und fuhr auf die Stadtautobahn.
    Wir setzten uns nach vorne, und ich betrachtete die Leute im Bus. Die meisten waren älter; zwei sahen wie Studenten aus, ein junges Ehepaar hielt zwischen sich ein kleines Kind fest. Sie schauten uns voller Angst und Ekel an, vermischt mit Haß. Ich konnte mir vorstellen, wie es sein mußte, wenn man mit einer Gruppe junger Schwarzer, gekleidet in Straßenklamotten, in Southie oder Weiß-Dorchester in einen U-Bahn-Waggon stieg. Kein schönes Gefühl.
    Ich lehnte mich zurück und schaute aus dem Fenster auf das Feuerwerk am schwarzen Himmel. Es war jetzt nicht mehr so groß und bunt. Ich hörte das Echo meiner Stimme, als mich ein Auto voller Mörder über ein offenes Feld jagte und auf mich schoß und sich der Haß und die Angst in mir auf die Hautfarbe konzentrierten. »Scheißnigger«, hatte ich immer wieder gesagt. Ich schloß die Augen, und in der Dunkelheit nahmen sie immer noch das Licht wahr, das über mir am Himmel explodierte.
    Unabhängigkeitstag.
Der Bus ließ uns an der Ecke Mass. Ave, Columbia raus. Ich brachte Angie nach Hause. Als wir dort ankamen, legte sie mir die Hand auf die Schulter: »Gehst du damit zum Arzt?«
Obwohl die Schmerzen sehr stark waren, hatte ich im Bus, als ich

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