Streng vertraulich
die Wunde untersuchte, gemerkt, daß mich die Kugel nur gestreift und die Haut wie mit einem scharfen Messer aufgeritzt hatte - nichts Lebensbedrohliches. Die Wunde mußte gesäubert werden, und sie tat höllisch weh, aber sie war es nicht wert, in einer überfüllten Notaufnahme kosmetisch behandelt zu werden. »Morgen«, antwortete ich.
Die Vorhänge im Wohnzimmer teilten sich kaum merklich: Phil spielte den Detektiv. Ich sagte zu ihr: »Du gehst jetzt besser rein.«
Der Vorschlag schien ihr nicht sonderlich zu gefallen. »Ja, schätze, es ist besser«, lenkte sie ein.
Ich warf einen Blick auf ihr blutverschmiertes Gesicht, auf den Schnitt in ihrer Stirn. »Das machst du auch besser sauber«, riet ich ihr, »du siehst aus wie ein Statist in einem Zombiefilm.«
»Du hast immer den richtigen Spruch auf Lager«, entgegnete sie und ging auf das Haus zu. Sie bemerkte den geteilten Vorhang und drehte sich mit gerunzelter Stirn zu mir um. Fast eine ganze Minute lang blickte sie mich mit großen und leicht traurigen Augen an. »Er war mal ein netter Kerl, weißt du noch?«
Ich nickte, denn es stimmte. Phil war mal ein toller Typ gewesen. Bevor die Rechnungen eintrudelten und die Jobs flötengingen und das Wort Zukunft sich für ihn in einen gehässigen Witz verwandelte, weil es etwas beschrieb, das er nicht hatte. Phil war nicht immer ein Arschloch gewesen. Er war eins geworden.
»Gute Nacht«, verabschiedete ich mich.
Sie trat über die Schwelle und verschwand.
Ich ging die Straße rauf in Richtung Kirche. Am Spirituosengeschäft machte ich kurz halt und kaufte ein Sixpack. Der Typ hinter der Theke sah mich an, als würde er meinen baldigen Tod erwarten; vor etwas mehr als einer Stunde - die mir jetzt wie eine Ewigkeit vorkam - hatte ich soviel Alkohol bei ihm gekauft, daß ich mein eigenes Geschäft hätte aufmachen können, und jetzt war ich schon wieder da. »Sie kennen das ja«, entschuldigte ich mich, »vierter Juli.«
Der Typ schaute mich an, meinen blutigen Arm und das schmutzige Gesicht. »Yeah«, erwiderte er, »erzählen Sie das Ihrer Leber.«
Auf dem Weg die Straße hinunter trank ich ein Bier und dachte über Roland und Socia, Angie und Phil, den Helden und mich nach. Schmerzenstänze. Beziehungen aus der Hölle. Achtzehn Jahre lang war ich für meinen Vater ein Punchingball gewesen, und nie hatte ich zurückgeschlagen. Ich hatte geglaubt, mir immer wieder eingeredet, daß er sich ändern würde; er würde sich bessern. Es ist schwer, die Hoffnung aufzugeben, daß sich etwas verändert, wenn man jemanden liebt.
Angie und Phil waren genauso. Sie kannte ihn aus der Zeit, als er der bestaussehende Junge in der ganzen Gegend war, ein Charmeur und Anführer, der die besten Witze und die anrührendsten Geschichten erzählte. Er war das Vorbild von allen. Ein toller Kerl. Den sah sie in ihm noch immer, betete darum, hoffte gegen jede Vernunft, daß sich Menschen manchmal zum Besseren ändern, obwohl sie den Rest der Welt mit großem Zynismus betrachtete. Phil mußte einer von diesen Menschen sein - was hatte es sonst für einen Sinn?
Und dann gab es Roland, der den ganzen Haß, die Widerwärtigkeit und Verdorbenheit in sich aufgenommen hatte, die seit seiner Kindheit in ihn gestopft worden waren, und der sich nun umdrehte und das alles der Welt entgegenspie. Der gegen seinen Vater Krieg führte und sich einredete, er würde seine Ruhe haben, wenn die Sache einmal erledigt war. Aber das stimmte nicht. So funktioniert es nämlich nicht. Wird einem Menschen solche Widerwärtigkeit aufgezwängt, dann wird sie zu einem Teil von ihm, vergiftet sein Blut, rast in sein Herz und wieder heraus und verseucht alles auf ihrem Weg. Die Widerwärtigkeit verläßt ihn nie, kommt nie heraus, was er auch tut. Wer etwas anderes glaubt, ist naiv. Man kann nur hoffen, daß man sie kontrollieren kann, daß man sie zu einem kleinen Ball zusammenpressen und an einem sicheren Ort aufbewahren kann, wo sie ein ewig auf einem lastendes Gewicht bleibt.
Ich ging in den Glockenturm - immer noch weniger riskant als mein Apartment. Dort setzte ich mich an meinen Schreibtisch und trank das Bier aus. Der Himmel war nun leer, die Feier vorbei. Der Vierte würde bald zum Fünften werden, und die Heimreise von Cape Cod und Martha’s Vineyard hatte wahrscheinlich schon eingesetzt. Der Tag nach dem Urlaub ähnelt dem Tag nach dem Geburtstag: Alles wirkt plötzlich so alt wie angelaufenes Kupfer.
Ich legte die Füße auf den Tisch und lehnte mich zurück.
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