Stresstest Deutschland
sehr ist Stuttgart 21 jedoch auch ein Beispiel dafür, dass sämtliches Engagement schlussendlich doch im Sande verläuft, wenn sich erst einmal die politische Klasse der Sache annimmt. Dabei stellt das Schlichtungsverfahren in der Art und Weise, wie es dem politischen Establishment gelungen ist, die Projektgegner einzulullen, wohl eines der erfolgreichsten Schurkenstücke der jüngeren Geschichte dar.
Den Befürwortern von Stuttgart 21 ging es beim Schlichtungsverfahren vor allem um eine moralische Legitimation, ein »S 21 mit menschlichem Antlitz«. Es war von vorneherein klar, dass weder Stadt, Land, Bund noch Bahn vom milliardenschweren Projekt abrücken würden. Nach dem anhaltenden Widerstand und vor allem dem »schwarzen Donnerstag« am 30. September 2010, an dem die Behörden im Stuttgarter Schlosspark Kinder und Rentner zusammenknüppeln ließen, geriet das Projekt jedoch in eine Schieflage. Da der Widerstand im Oktober 2010 eine kritische Masse erreicht hatte, mussten die Projektbefürworter eine Charmeoffensive starten. Selbst wenn die Befürworter im gesamten Schlichtungsverfahren auf sachlicher Ebene in keinem Punkt überzeugen konnten, so lullten sie die Öffentlichkeit doch sehr erfolgreich mit einem technisch-administrativen Kleinklein ein.Wer die Schlichtungsrunden aufmerksam verfolgte, konnte den Argumenten der Befürworter zwar nichts abgewinnen; die Crux ist jedoch, dass kaum jemand so viel Leidensfähigkeit mitbrachte, sich stundenlange, oft staubtrockene Expertenstatements anzuschauen, und bei den meisten Zuschauern wohl als Erkenntnis das Zwischenfazit des S-21-Gegners Peter Conradi hängenblieb: »Sie sagen das, wir sagen das, die Zahlen stehen im Raum, gehen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt.«
Die Befürworter konnten somit bei der Schlichtung nur gewinnen. Warum aber nahmen die Gegner an einem Schlichtungsverfahren teil, das keinesfalls ergebnisoffen geführt wurde? Den Vertretern der Projektgegner ging es vor allem darum, den Widerstand zu kanalisieren und ihn damit politisch kontrollierbar zu machen. Vor allem die Grünen hatten kein Interesse an einem wilden Widerstand. Ein wilder Widerstand entzieht sich der politischen Kontrolle, er lässt sich nicht zum Gegenstand eines politischen Kuhhandels machen.
Die Streitigkeiten um Stuttgart 21 haben ganz maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Baden-Württemberg zu einem Regierungswechsel mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten kommen konnte. Ohne ein vorheriges Zurückrudern bei Stuttgart 21 wäre dieser Sieg jedoch nicht zustandegekommen, da ein Zurückrudern ohne kommunizierbaren Grund den Wählern nur schwer zu vermitteln gewesen wäre. Was liegt da näher, als selbst konstruktiv an einem Hintertürchen mitzuarbeiten? Der Schlichterspruch Heiner Geißlers war dann auch – wie von allen Seiten beabsichtigt – eine erstklassige Steilvorlage für die Grünen, um nach dem Wahlsieg den Projektgegnern ohne allzu große Verrenkungen in den Rücken zu fallen.
So kam es, wie es kommen musste. Der Widerstand gegen Stuttgart 21 hat über die sechswöchigen Schlichtungsverhandlungen seinen Drive verloren und konnte ihn danach auch nie wiedergewinnen. Die Grünen konnten den Widerstand der Bürger gegen Stuttgart 21 nutzen, um im Ländle an die Macht zu kommen, und ließen die Wutbürger danach fallen wie eine heißeKartoffel. Um den Anschein demokratischen Anstands aufrechtzuerhalten, veranstaltete die grün-rote Landesregierung noch eine Volksbefragung, die aufgrund des unrealistisch hohen Quorums von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Stuttgart 21 wird wohl als Lehrstück postdemokratischer Politik in die deutsche Geschichte eingehen.
Deutschland ist zweifelsohne ein demokratisches Land. Eine Demokratie ohne Demokraten kann jedoch nicht funktionieren, und damit sind nicht nur die Repräsentanten des Systems, sondern auch die Bürger gemeint. Wenn die Bürger »ihre Politiker« nicht kritisch begleiten und ihnen bei Bedarf auch mal auf die Finger klopfen, werden diese die gewonnenen Freiheiten ausnutzen. Die Bürger sind jedoch beileibe nicht der einzige Akteur im Kampf um die Köpfe und Herzen der Politiker.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat den Begriff »Postdemokratie« geprägt. Er beschreibt damit die formale Fortexistenz demokratischer Institutionen, hinter deren Fassade aber eine weitreichende Selbstaufgabe der Politik stattgefunden hat.
Wo ist die Alternative?
Aus passiven Demokraten aktive zu
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