Stresstest Deutschland
Lohnsteigerungen den Charakter eines Landes verändern können.
Die älteren Leser werden sich bestimmt noch daran erinnern, wie es in diesen Ländern vor wenigen Jahrzehnten aussah. Als deutscher Tourist empfand man das dortige Lebensniveau als vergleichsweise rückständig. Der öffentliche Nahverkehr funktionierte nach dem Prinzip des kreativen Chaos, die ortsüblichen Löhne waren so niedrig bemessen, dass man sich selbst als relativ gut betucht vorkam. Und an allen Ecken und Enden gab es strukturelle Schönheitsfehler, die uns retrospektiv im Vergleich zum »ordentlichen« Deutschland als charmant, ja geradezu idyllisch vorkamen.
Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Wer heute von Rom nach Berlin zurückkommt, läuft vielmehr Gefahr, exakt einen umgekehrten Kulturschock zu erleben. Heute ist eine Fahrt mit den Berliner Verkehrsbetrieben ein kreativ-chaotisches Abenteuer, die mangelnde Kaufkraft der Hartz- IV -Metropole ist an allen Ecken und Enden wahrzunehmen, und die Schönheitsfehler der deutschen Hauptstadt werden heute durch den Slogan »arm, aber sexy« verbrämt. Europa hat sich weiterentwickelt, während Deutschland in seinen besseren Gegenden stehengeblieben ist und sich in seinen Problemregionen sogar zurückentwickelt hat. Konnten unsereNachbarn ihre (inflationsbereinigten) Reallöhne von Jahr zu Jahr steigern, müssen wir seit rund zwei Jahrzehnten Reallohnkürzungen hinnehmen.
Entwicklung der Reallöhne von 2000 bis 2008
Realeinkommen aus unselbstständiger Arbeit einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, Quelle: EU-Kommission, Hans-Böckler-Stiftung
Nach Berechnungen des WSI sind die Einkommen der deutschen Arbeitnehmer in den Jahren 2000 bis 2008 um 0,8 Prozent gesunken, während sie für den Gesamtzeitraum in Spanien um 4,6 Prozent, in Italien um 7,5 Prozent, und in Frankreich um 9,6 Prozent gestiegen sind. 1 Es sind jedoch nicht nur die vermeintlich »unsoliden« Mittelmeeranrainer, die ihren Lebensstandard deutlich verbessern konnten. Noch höhere Reallohnsteigerungen konnten im letzten Jahrzehnt die Arbeitnehmer in den als grundsolide geltenden Staaten Niederlande (12,4 Prozent), Schweden (17,9 Prozent), Finnland (18,9 Prozent) und Dänemark (19 Prozent) erzielen. Auch Großbritannien liegt mit 26,1 Prozent deutlich vor Deutschland.
Für einen deutschen Arbeitnehmer mit einem monatlichen Nettogehalt von aktuell 2 000 Euro bedeuten diese Zahlen, dass er bei einer Lohnentwicklung wie in Italien heute jeden Monat 150 Euro mehr in der Tasche hätte – bei einer Lohnentwicklung wie in den Niederlanden wären es sogar 248 Euro und bei einer wie in Dänemark stolze 380 Euro. Wer im nächsten Italienurlaub über die – für deutsche Verhältnisse – teuren Restaurantkosten meckertund neidisch auf den Dänen am Nachbartisch schielt, der sich noch ein leckeres Tiramisu als Nachtisch bestellt hat, sollte sich darüber im klaren sein, dass seine finanziellen Probleme nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern politisch durchaus gewollt sind.
Der Neoliberalismus ist nicht zu bremsen
Als Helmut Kohl 1982 Kanzler in einer schwarz-gelben Koalition wurde, drohte er dem Volk mit einer »geistig-moralischen Wende«. Aus der von Kohl erhofften Rückkehr der konservativen Werte in den Köpfen der Meinungsbildner wurde bekanntermaßen nichts. Die Revolution in den Köpfen der Eliten löste vielmehr Kohls kleiner Koalitionspartner aus. Das im gleichen Jahr verfasste »Lambsdorff-Papier« 2 wurde über die Jahre hinweg zu einer politischen und medialen Agenda namens »Neoliberalismus« ausgestaltet, die Deutschland seitdem von Grund auf verändert hat. Um zu verstehen, wie das schleichende Gift des Neoliberalismus wirkt, lohnt sich ein kurzer Blick auf die theoretischen Grundlagen dieser Ideologie.
Schon der Begriff Neoliberalismus ist keinesfalls eindeutig. Insgesamt umfasst er heute drei Denkrichtungen der Wirtschaftswissenschaften, die sich allerdings weitestgehend unterscheiden:
1. Der Ordoliberalismus der Freiburger Schule, der eine der Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft darstellt, die seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland unser ordnungspolitischer Rahmen ist. Bekannte Verteter dieser Schule waren Walter Eucken, Ludwig Erhard und dessen Staatssekretär Alfred Müller-Armack.
2. Der Marktliberalismus der Chicagoer Schule, der die Grundlage der angebotspolitischen Reformen Ronald Reagans (Reaganomics) und Margaret Thatchers (Thatcherismus) darstellt und maßgeblich
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