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Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Berger
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hatte Deutschland endgültig aus der wohligen Heimeligkeit der Bonner Republik gerissen. Die vier Jahre später von Rot-Grün beschlossene Agenda 2010 setzte konsequent fort, was die »neue Mitte« als Modell der Zukunft vorgesehen hatte – eine Abkehr vom klassischen Rechts-Links-Schema und eine Vereinigung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen, die freilich in ihrer Umsetzung die Arbeitnehmerinteressen geflissentlich vergaß. Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass die rot-grüne Regierung die konservativen Parteien auf der Schnellstraße des Sozialabbaus rechts überholt und das Land unter dem Jubel der reformversessenen Medien (siehe Kapitel 2) binnen weniger Jahre von Grund auf umgekrempelt hat.
    Nach seinem Amtsantritt sagte Gerhard Schröder: »Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der die Menschen, die jetzt Transfereinkommen beziehen, wieder in Arbeit und Brot bringt.« 5 Dieses Ziel hat er erreicht. Bereits im Januar 2005 konnte Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vermelden: »Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« 6
    Rückblickend stellen die neoliberalen Reformen der Agenda 2010 eine Zeitenwende für das Land dar. Unter der Regentschaft von Rot-Grün fand die Zeit ihr Ende, in der Chancengleichheit und soziale Mobilität noch gesellschaftspolitische Ziele waren. Vorbei war die Zeit, in der man mit Hoffnung und nicht mit Angst in die Zukunft blickte. Vorbei die Zeit, in der man daran glaubte, dass der eigene Nachwuchs gute Chancen hat, sich eine eigene Existenz aufzubauen, die in den meisten Fällen – nach sozio-ökonomischen Standards bemessen – besser ist als das eigene Leben. Stattdessen begann die Zeit des Niedriglohns, die Zeit von Hartz IV , die Zeit der prekären Arbeitsverhältnisse und damit auch die Zeit der auseinanderklaffenden Einkommens- und Vermögensschere.
    Autos kaufen keine Autos
    Das grundlegende Problem der Angebotsorientierung ist, dass sie die Frage ignoriert, wer eigentlich die Produkte kaufen soll, die zu solch arbeitgeberfreundlichen Konditionen hergestellt werden. Am Ende des Wirtschaftskreislaufs steht immer der Verbraucher, also der private Haushalt. Fast jedes Produkt und fast jede Dienstleistung wird direkt oder indirekt am Ende der Kette von einem privaten Haushalt nachgefragt. Selbst der Maschinenbausektor, auf den Deutschland so stolz ist, stellt seine Maschinen nicht zum Selbstzweck her, um weitere Maschinen zu bauen. Jede Maschine, die Deutschland ins Ausland exportiert, stellt dort ein Produkt her, das irgendwo auf der Welt von einem Endkunden gekauft wird. Es liegt also auf der Hand, dass die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zum Scheitern verurteilt ist, denn wenn die Produkte nicht gekauft werden, weil die Arbeitnehmer nicht genug verdienen, machen die Unternehmen keine Gewinne. Der Erzkapitalist Henry Ford hat dieses Paradoxon einst unter dem simplem Motto »Autos kaufen keine Autos« zusammengefasst.
    Die Unternehmen in Ländern, in denen der Neoliberalismus umgesetzt wurde, können daher bestenfalls immer nur relative Standort- oder Produktivitätsvorteile gegenüber Unternehmen in anderen Ländern haben, die sich dem Neoliberalismus noch weitestgehend verschlossen haben. Dies betrifft jedoch nur die Unternehmen, die auch tatsächlich im internationalen Wettbewerb stehen und deren Güter vornehmlich im Ausland abgenommen werden. Deutschland ist Vizeexportweltmeister, und jeder vierte Arbeitsplatz hängt – so hört man – direkt beziehungsweise indirekt vom Export ab. Diese Aussage aus dem Phrasenbaukasten der Arbeitgeberverbände und ihrer Erfüllungsgehilfen an den Schreibtischen der Redaktionen lässt sich jedoch ohne weiteres auch gegen die neoliberale Agenda ins Feld führen. Wenn wirklich jeder vierte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Export abhängt, dann hängen auch im Umkehrschluss drei Viertel aller Arbeitsplätzeweder direkt noch indirekt vom Export ab. Eine Wirtschaftspolitik, die auf Gedeih und Verderb auf die relativen Standort- und Produktivitätsvorteile der exportierenden Unternehmen setzt, schwächt jedoch unweigerlich die Binnennachfrage und somit die Existenzgrundlage von drei Vierteln aller Arbeitsplätze in Deutschland.
    Natürlich ist es für das Maschinenbau-Unternehmen, das seine Produkte fast ausschließlich nach China verkauft, ein großer Vorteil, wenn seine deutschen Mitarbeiter möglichst wenig Geld

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