Stresstest Deutschland
bekommen. Für den Bäcker an der Ecke ist es jedoch ein großer Nachteil, wenn seine Kunden nur über wenig Geld verfügen und sich beispielsweise den Kuchen zum Feierabend nicht mehr leisten können. Wie dem Bäcker ergeht es dem Großteil der deutschen Wirtschaft. Was hat der Zeitungsverleger davon, wenn seine Leser wegen Geldknappheit ihr Abo kündigen? Was hat das Einzelhandelsunternehmen davon, wenn seine Kunden entweder zu Billigprodukten mit niedrigerer Gewinnspanne greifen oder gleich ganz auf den Einkauf verzichten? Geiz ist nicht immer geil. Was hat der mittelständische Handwerksmeister davon, wenn sich seine potentiellen Kunden seine Arbeit nicht mehr leisten können und die Reparaturen daher aufschieben oder in Schwarzarbeit erledigen lassen?
Auch wenn der Neoliberalismus vor allem von den Arbeitgeberverbänden propagiert wurde, ist dennoch festzuhalten, dass diese Form der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gerade eben keine arbeitgeber- oder gar unternehmensfreundliche Politik ist. Die meisten Arbeitgeber und Unternehmer sind darauf angewiesen, dass ihre Produkte und Dienstleistungen zum größten Teil von Kunden im eigenen Land nachgefragt werden. Was Henry Ford zumindest in diesem Punkt noch besessen hat, ist unseren Unternehmern offensichtlich im täglichen Propaganda-Overkill der McKinseys, Roland Bergers und Hans-Werner Sinns abhanden gekommen: der gesunde Menschenverstand.
Bewusstseinsverändernde Droge mit drei Buchstaben
Die meisten Denkfehler der wirtschaftspolitischen Debatte lassen sich auf das Kürzel BWL reduzieren. Traditionell war die Betriebswirtschaftslehre stets nur ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften, das sich fast ausschließlich mit der Perspektive des einzelnen Betriebs befasst und die Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen weitestgehend als konstant (ceteris paribus) annimmt. Kein seriöser Betriebswirt käme daher je auf die Idee, dass die Erkenntnisse seines Teilgebiets sich auch auf andere Bereiche der Wirtschaftswissenschaften übertragen ließen. Leider scheint es hierzulande jedoch kaum seriöse Vertreter der Betriebswirtschaftslehre zu geben, die sich auch einmal trauen, den Mund aufzumachen und gegen den gigantischen Unfug zu Felde zu ziehen, der auch in ihrem Namen verbreitet wird.
Jedem Unternehmer ist klar, dass seine betriebswirtschaftlichen Entscheidungen sich immer auf ein ganz konkretes Umfeld beziehen und er dabei stets die Entscheidungen seiner Konkurrenten im Auge behalten muss. Wenn ein Automobilhersteller beispielsweise seine Marktmacht nutzt, um einem Zulieferer günstigere Einkaufspreise zu diktieren, so ist dies für den Automobilhersteller ein Vorteil. Nutzen jedoch auch seine Konkurrenten ihre Marktmacht und pressen dem Zulieferer Einkaufspreise ab, die unter dessen Kosten liegen, so wird der Zulieferer über kurz oder lang in Konkurs gehen, und alle Automobilhersteller hätten plötzlich ein Beschaffungsproblem, das schlussendlich zu ernsthaften Lieferengpässen und somit zu Verlusten führen könnte. Was für ein Unternehmen von Vorteil ist, ist häufig für ein anderes Unternehmen von Nachteil. Was für die Gesamtheit der Unternehmen unter dem Strich von Vorteil ist, lässt sich somit nur sehr schwer über den Entscheidungshorizont der Betriebswirtschaftslehre bestimmen.
Leider hat sich in der Politik jedoch die Vorstellung durchgesetzt, dass die Nationalstaaten im direkten Wettbewerb zu anderenNationalstaaten stehen und daher dazu neigen, sich selbst als eine Art Unternehmen zu sehen. Dabei verliert man jedoch unweigerlich den eigentlichen Sinn und Zweck politischen Handelns aus den Augen. Wer sich selbst zuallererst in Konkurrenz zu anderen sieht, neigt immer dazu, auf relative und nicht auf absolute Vorteile zu setzen. Diese BWL -Perspektive ist vor allem in Deutschland weit verbreitet und findet in Angela Merkels Leitbild der »schwäbischen Hausfrau« ihren traurigen Höhepunkt.
Die schwäbische Hausfrau als Kardinalfehler deutschen Denkens
Als Metapher für die betriebswirtschaftliche Sichtweise volkswirtschaftlicher Problemstellungen schuf Angela Merkel 2008 auf dem Bundesparteitag der CDU ihr mittlerweile berühmt-berüchtigtes Leitbild der »schwäbischen Hausfrau«. Aus wahlkampfstrategischer Sicht ist dieses Leitbild zweifelsohne genial. Zum Stereotyp des Schwaben gehört es nun einmal, dass er bescheiden bis geizig ist und sich nur das leistet, was er sich auch leisten kann:
Schaffe, schaffe, Häusle baue,
Und net
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