Stromschnellen: Roman (German Edition)
Antwort von ihr erwartete. Niemand erwartete von ihr, dass sie etwas sagte, nicht einmal ihre Lehrer. Bevor sie eine im Unterricht gestellte Frage beantworten konnte, musste sie immer erst herausfinden, wie sich das Gefragte zu all den anderen Dingen verhielt, die sie wusste. So konnte es geschehen, dass sie erst Stunden später eine Antwort fand, wenn sie allein in ihrem Boot saß und die Wasserläufer auf der Oberfläche des Flusses beobachtete. Ihr fiel es leichter, beim Rudern Matheaufgaben im Kopf zu lösen oder beim Tauchen die Zellteilung nachzuvollziehen.
War es so schlimm gewesen? Margo zog ihre Unterhose hoch. Wenn sie sich nicht auf ihre Atmung konzentrierte, würde sie das Atmen vergessen und sterben, dachte sie. Sie sah sich um, ob sich etwas verändert hatte. Der Tierkadaver nicht, die Spinnweben nicht und auch nicht der Blutgeruch. Onkel Cal lächelte sein typisches Lächeln. Sie musste raus aus diesem Schuppen, musste ihn von außen sehen und sich darüber klar werden, was gerade passiert war.
Da stürmte Margos Vater herein. Cal stand gerade auf und knöpfte sich die Hose zu, als ihr Vater, der kaum größer als sie selbst war, mit dem Fuß die Tür aufstieß und Cal mit seinem Arbeitsstiefel in den Mund trat. Margo hörte Knochen knacken, und zwei rot-weiße Klümpchen – Onkel Cals Zähne – hüpften auf den Boden. Die beiden für ihr hitziges Temperament berüchtigten Halbbrüder fauchten sich an wie Bären.
Tante Joanna betrat den Schuppen, kurz nachdem Margos Vater Cal den Kopf in die Brust gerammt und ihm eine Rippe gebrochen hatte. Rund ein Dutzend Gaffer fand sich ein und schaute zu, die einen im Innern des Schuppens, die anderen durch die offene Tür oder die schmutzige Fensterscheibe. Julie Slocum schlüpfte herein und strich Margo mit der Hand übers Haar. Sie roch nach dem Kerosin der Heizgeräte, die ihre Familie in den Wohnwagen benutzte. Cal lag jetzt am Boden, und Joanna beugte ihren langen Rücken über seinen Körper. Sie wischte ihm mit einem Taschentuch das Blut vom Mund und zischte ihn wütend an. Als Cal sich flüsternd verteidigte, wurde es schlagartig still. »Das kleine Flittchen hat mich hergelockt, Joanna, aber ich schwöre dir, ich habe sie nicht angerührt«, beteuerte er.
Schweigend und wie erstarrt standen alle da. Erst als Julie rückwärts zur Tür schlich, hüstelte jemand, und ein Raunen setzte ein.
Joanna sah Margo an. »Zum Teufel mit dir!«
Margo fixierte Cal mit zusammengekniffenen Augen, als nähme sie ihn mit der Marlin ins Visier. Sie wartete auf eine Erklärung oder Geste von ihm, die klarstellte, dass er seine Worte nicht so gemeint hatte. Mit dem Tod ihres Großvaters im Januar und dem Fortgang ihrer Mutter im Juli hatte es begonnen, und nun war der Bruch zwischen ihr und den anderen endgültig vollzogen. Selbst ihr Vater, der neben ihr stand und »Steh auf!« sagte, schien weit weg.
Im Pick-up wollte ihr Vater von ihr wissen, was passiert war, aber Margo schwieg sich aus. Er fuhr auf den Parkplatz vor der Polizeiwache und flehte sie an, mit ihm hineinzugehen. Als er einen halbherzigen Versuch unternahm, sie aus dem Pick-up zu ziehen, griff sie mit der linken Hand nach dem Schalthebel und mit der rechten nach der Armstütze und klammerte sich fest. Sie hatte gegen Cal keinen Widerstand geleistet, aber Widerstand war eine Lektion, die sie rasch lernte. Als sie an diesem Abend zu Hause im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hörte sie eine Eule. Huhu, wer ruft mir zu? , ahmte sie den Vogel leise nach. Sie stellte sich vor, wie sie auf die Eule zielte und sie von ihrem dämlichen Sitzplatz in den Zedern schoss. Durchs Fenster sah Margo, dass gegenüber bei den Murrays noch Licht brannte, und sie vernahm leise Musik.
Am nächsten Morgen wurde sie vom Stöhnen ihres Vaters wach, das durch die Wand zu ihr drang. Mit einem Buttermesser öffnete sie seine abgeschlossene Tür. Er lag mit geschwollenem, blutverkrustetem Gesicht im Bett und roch nach Brombeerschnaps. Als er sie bat, ihm ein Bier zu bringen, zerrte sie sein noch nicht angebrochenes Zwölferpack Bierdosen neben dem Kühlschrank hervor, trat es mit dem Fuß von der Veranda und stieß es vor sich her in den Wald, wobei es sich immer wieder überschlug, bis der Karton aufriss. Margo öffnete eine Bierdose, ließ den Schaum über ihre Hand laufen, nahm einen kräftigen Schluck und spuckte ihn aus. Dann stellte sie die Dose auf einen Baumstumpf. Eine zweite platzierte sie ungeöffnet in der
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