Stromschnellen: Roman (German Edition)
Zwölf davon schlugen ein einziges Loch von nur knapp einem Fingerbreit Durchmesser. »Was zur Hölle war das?«, fragte Cal und fuhr mit dem Finger über das zerfetzte Papier. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so geschossen! Teufel noch mal!« Onkel Cal hielt es für sein Verdienst, Margo das Schießen beigebracht zu haben, und Margo hatte seine Anleitung zwar gespürt, aber noch stärker hatte das Gewehr selbst sie geführt. Es hatte ihr Halt gegeben, und die Trauer hatte ihre Treffsicherheit perfektioniert.
Als Cal dann in der Metallfabrik der Murrays den Posten des Direktors übernahm, hielt er seine Söhne dazu an, in den Sommern zu arbeiten, statt sich den ganzen Tag am Fluss herumzutreiben. Etwa zur selben Zeit begann Margos Mutter, sich zu schminken und nachmittags stundenlang zu verschwinden. Bei Einbruch der Dunkelheit kam sie nach Hause – bis zu einem Abend im Juli, an dem Margo allein schwimmen gegangen war. In Margos extragroßem Kescher lag ein riesiger Bovist, weiß wie der Mond und größer als ihr eigener Kopf. Margo stieg aus dem Fluss und stand allein auf dem Steg mit dem totenkopfweißen Pilz in der Hand, den sie in Scheiben schneiden und braten wollte. Das kleine Haus der Cranes lag im Dunkeln. Als Margo in der Küche Licht machte, sah sie den Zettel auf dem Tisch. Sie las ihn ein ums andere Mal, aber begriff die Bedeutung nicht. Wie oft hatte Luanne geklagt, dass sie das Leben an diesem Ort nicht ertrug, und doch war sie immer da gewesen! Margo kratzte sich am Knöchel und entdeckte einen vollgesaugten Blutegel. Sie hatte nicht die Geduld, ihn mit Salz zu bestreuen und zu warten, bis er verschrumpelte. Stattdessen nahm sie ein Fleischermesser, stieß dem Biest mit dem hölzernen Griffende auf den Kopf und zog es mit einer Drehbewegung heraus, bis die blutige Masse auf die Küchenfliesen fiel.
Vielleicht waren nach dem Tod des alten Murray der Niedergang der Metallfabrik und die daraus folgende Arbeitslosigkeit in Murrayville unvermeidlich, noch dazu vor dem Hintergrund der Wirtschaftslage Ende der Siebzigerjahre; vielleicht war aber auch Onkel Cals schlechtes Management schuld. Vielleicht musste auch geschehen, was zwischen Onkel Cal und Margo am Tag nach Erntedank geschah. Als Margo zwei Spülbecken voll Geschirr abgewaschen hatte, scheuchte Tante Joanna sie aus der Küche.
»Geh mit den anderen feiern, amüsiert euch«, forderte Joanna sie auf. »Husch!«
»Ich zieh mir nur schnell Jeans an«, erwiderte Margo. Sie trug ein langärmliges Kleid, das sie auf Joannas Geheiß immer dann anziehen musste, wenn sie ihre Tante in die Kirche begleitete, und sei es auch nur, um ein paar Lebensmittelkonserven zu spenden. Obenherum war das Kleid gar nicht so übel, aber es reichte Margo bis über die Knie.
»Was ist schlimm daran, sich wie ein Mädchen zu kleiden?«, wollte Joanna wissen. »Geh raus und sag deinem Cousin Junior, er soll nicht nur Rock-’n’-Roll-Platten auflegen. Wir wollen ein bisschen Country Music hören.«
Das Fest war in vollem Gang, und aus den in den Bäumen festgezurrten Lautsprechern dröhnte gerade »Smoke on the Water«. Joanna bugsierte Margo zur Tür, drückte ihr die Jacke in den Arm und schob sie hinaus in die Kälte. Margo raffte ihr Kleid und krempelte es an der Hüfte um, um es kürzer zu machen. Es war das erste Fest ohne Grandpa Murray, und Margo vermisste seine starke Präsenz. Sie schlenderte über das gefrorene Gras zu ihrem Vater, doch der war in ein Gespräch vertieft. Da er sie nicht beachtete, ging sie weiter zu der Stelle, an der das Spanferkel zerlegt wurde. Hal Slocum, der Mann, den Margo einst vor dem Ertrinken gerettet hatte, schnitt das Fleisch in Streifen und legte diese in eine große Aluminiumschale. Margo sah, wie ein langer weißer Knochen zum Vorschein kam, an dem er dicht entlangschnitt. Hal wohnte mit Frau und sechs Kindern in zwei Wohnwagen eine halbe Meile flussaufwärts auf dem Land der Murrays. Julie Slocum, die für ihre dreizehn Jahre noch eine ganz schöne Petze war, flirtete gerade mit ihrem Cousin Junior, der im Schneidersitz neben dem Plattenspieler hockte und sie ignorierte. Billy Murray, ein paar Monate jünger als Margo, kommandierte ein paar kleine Kinder herum, darunter auch seine Zwillingsbrüder Toby und Tommy. Margo beobachtete, wie er sie anwies, auf allen vieren zu der Stelle zu kriechen, an der die Männer Hufeisen warfen, und in ihr schäumendes Fassbier zu spucken. Die Männer merkten es nicht, und jedes
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