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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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ein paar Koteletts und Steaks in blassgrünes Wachspapier gewickelt und eingefroren. Den Großteil hatten sie mit dem am Küchentisch festgeschraubten Fleischwolf zu Hackfleisch verarbeitet und das magere Wildbret anschließend mit Rindertalg aus dem Lebensmittelladen vermengt, in dem Crane seit Kurzem arbeitete, auch wenn er dort im Vergleich zu früher nur noch die Hälfte verdiente. Danach hatten sie Margos zweiten Hirsch aufgebrochen, ein paar Telefonate geführt, das tote Tier hinten auf den Pick-up gewuchtet, mit einer Plane zugedeckt und bei einem Mann mit acht Kindern abgeliefert, der gerade seinen Job in der Metallfabrik der Murrays verloren hatte.
    Als Crane mit einem Blick über die Schulter feststellte, dass Margo ihm nicht zuhörte, sondern sich davonstahl, rammte er das Messer in den Baumstumpf und stand auf. »Herrgott noch mal, Margo! Wenn du schon nicht antwortest, kannst du wenigstens zuhören, wenn ich mit dir rede.«
    Margo streckte sich, aber das orangefarbene Stück Papier war zu weit oben an den Baum getackert. Crane stellte sich neben sie und blickte zu dem handgeschriebenen Zettel hoch.
    Alljährliches Familientreffen der Murrays zum Thanksgiving-Wochenende am Freitag, den 23.   November stand da und darunter die Adresse in der Stark River Road, als würden die Murrays sie nicht sowieso alle wissen. Jemand hatte in einfachen Strichzeichnungen ein Schwein, einen Truthahn und einen Kuchen dazu gemalt – bestimmt Tante Joanna, denn niemand sonst hätte sich die Mühe gemacht, die Einladungen zu verzieren.
    »Der Scheißkerl!«, fluchte Crane und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sein Backenmuskel zuckte. Er sprang ein paarmal hoch, um nach dem Zettel zu schnappen, kam aber nicht heran.
    Für Margo stand fest, dass ihr Cousin Billy dahintersteckte, der inzwischen fast so groß wie Cal war und extrem abstehende Ohren hatte. Er machte Margo in der Schule das Leben zur Hölle. Nachdem er sie vor einem Monat auf dem Heimweg fast über den Haufen gefahren hatte – sie hatte sich durch einen Sprung in einen von Brombeergestrüpp überwucherten Graben retten müssen –, hatte Margo ihm auf dem Schulparkplatz ein überfahrenes Murmeltier auf den Rücksitz seines Camaro gelegt. Aus Rache hatte Billy ihr im Gang aufgelauert und ihr mit einer Schere hinterrücks ein ganzes Stück von ihrem langen dunkelbraunen Pferdeschwanz abgeschnitten. Sie hatte ihren Vater später angelogen und behauptet, sie hätte es selbst getan. Sie hatte ihm den Zopf gegeben, und Crane hatte ihn sich kopfschüttelnd um die Hand gewickelt und in die Jackentasche geschoben wie seinerzeit den Abschiedsbrief ihrer Mutter.
    Bis vor Kurzem hatte Junior Murray in der Schule auf sie aufgepasst, aber als Cal ihn diesen Sommer zum dritten Mal beim Kiffen erwischt hatte, hatte er ihn seine Sachen packen lassen und auf eine Militärakademie im Westen geschickt. Früher war Margo oft von zu Hause ausgebüxt und hatte Junior in der verlassenen Hütte oben am Fluss besucht, die er Marihuana-Haus nannte. Ab und zu hatte sie auch an einem Joint gezogen, aber sie mochte das schwummrige Gefühl nicht, das das Gras in ihr hervorrief. Manchmal hatte sie auf dem Weg zur Hütte ihre Cousine Julie Slocum allein am Flussufer sitzen sehen und zu Musik aus einem Transistorradio singen hören. Dann hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich ein Weilchen mit ihr zu unterhalten, aber andererseits: Hätte Julie sich vor einem Jahr um ihren eigenen Kram gekümmert, hätte niemand etwas von Margo und Cal erfahren, und alles hätte so bleiben können, wie es war.
    Crane stampfte davon, und Margo fuhr mit den Fingern über die Narben in der glatten Buchenrinde. Bevor Luanne verschwunden war, hatte sie Margo zu ihrem vierzehnten Geburtstag gemessen. Es hatte sich herausgestellt, dass Margo seit dem letzten Jahr nicht mehr gewachsen war, deshalb hatte Luanne keine neue Kerbe eingeritzt. »Das war’s dann wohl«, hatte sie gesagt. »Du bist jetzt erwachsen.«
    Crane kehrte mit der Kettensäge zurück und riss am Seilzug, um sie anzuwerfen. Der Motor heulte auf. Margo machte gerade noch rechtzeitig einen Schritt rückwärts, bevor ihr Vater das Blatt auf Kniehöhe am Stamm der Buche ansetzte. Späne stoben auf, und mit einem grimmigen, sauberen Schnitt trennte er den Baum von seinen Wurzeln. Er war größer, als Margo gedacht hatte, und die Krone verfing sich in einer mächtigen Sumpfeiche, bevor sie sich losriss und dabei einen Eichenast abbrach. Die

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