Stürmische Eroberung
selbstverständlich verboten gewesen. Die Musik, zu der die Leute um den Baum tanzten, war wegen der Kirchenglocken kaum zu hören, die überall in London geläutet wurden. Hinzu kamen Trompeten, Gewehrund Kanonenschüsse und die Freudenrufe, in die sich die fröhlich schellenden Glöckchen der Morristänzer mischten. Nach alter Tradition vollführten sie ihre Schritte, die ihnen lange Jahre verwährt worden waren.
Endlich kam der Tross unter lauten Begeisterungsrufen in Sicht und tauchte die Straße in einen silbernen und goldenen Glanz, durchwirkt von zahlreichen, aus bunter Seide gewobenen Wimpeln, die im Wind flatterten. Hingerissen beobachtete Prudence, wie zwei Herolde unter dem Balkon vorbeischritten und in schmale Trompeten bliesen. Ihnen folgten der Bürgermeister und der Ältestenrat der Stadt in scharlachroten Gewändern, behängt mit schweren goldenen Ketten. Hinter ihnen ritt der König selbst, ein gut aussehender Mann mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Sein schwerer Umhang war mit goldener Spitze besetzt. Der Monarch feierte an diesem Tag seinen dreißigsten Geburtstag. Ihm zur Seite saßen seine drei Brüder zu Pferde, alle mit silbernen Gewändern angetan. Das Gefolge bestand aus Edelmännern, die so reich gekleidet waren, wie England es seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Edelstes Tuch in Silber, Gold und tiefstem Violett war da zu sehen, zusammen mit großen Hüten, deren breite Krempen allerlei eitler Zierrat, Federn und Blumen schmückten. Wie Verdurstende das Wasser schienen die Menschen den Anblick all dieser Pracht in sich aufzusaugen. Warum nur hatten sie so lange damit gewartet, den König endlich ins Land zurückzuholen? An diesem Tag war jeder Mann, jede Frau und auch jedes Kind ein glühender Royalist!
Im Schneckentempo kroch der Zug über den Strand in Richtung Charing Cross zu den weitläufigen Palastanlagen von Whitehall. Es schien Prudence, als wartete sie schon seit einer Ewigkeit darauf, dass Adam endlich erschien. Sie konnte es kaum noch abwarten, zumal ihr Marys drei kleine Kinder immer wieder auf die Zehen oder gegen die Beine traten, was ihre Laune nicht eben hob. In der Menschenmasse, die unten an der Straße stand, erkannte sie plötzlich Molly an deren blondem Haar, das ihr offen über die Schultern fiel. Wie durch ein Wunder schien es ihr geglückt zu sein, sich einen Platz in der ersten Reihe der Schaulustigen zu verschaffen. Ohne lange nachzudenken, schlich sich Prudence vom Balkon, die Hintertreppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Doch es gelang ihr nicht, sich durch die drängenden Massen einen Weg zu bahnen. Alles Schieben und Drücken half nichts, und sie war zu klein, um über die Köpfe der anderen hinweg etwas sehen zu können. Traurig wollte sie gerade ins Haus zurückkehren, als sich ein Mann am Rand der Menschenmasse nach ihr umdrehte und sie bei der Hand nahm. Ein Lächeln lag auf seinem gebräunten Gesicht, und seine Augen strahlten.
"Wenn Sie erlauben? Es wäre doch schade, wenn man Sie tottreten würde, meine Liebe."
Er nickte seinem Begleiter zu, einem stämmigen Herrn mit hervorquellenden wasserblauen Augen. Erstaunt beobachtete Prudence, wie die beiden die Menge für sie teilten und ihr so den Weg freimachten.
Sie wandte noch einmal den Kopf, um dem Gentleman zu danken. Zwar war er kein Riese, aber doch hoch gewachsen und einigermaßen attraktiv. Dunkelbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Die Lippen waren schmal und schienen einen Hang zur Brutalität zu verraten, der Blick durchdringend ohne die geringste Spur von Schüchternheit. Es fiel Prudence schwer, diesen Mann einzuschätzen. Etwas Dunkles umgab ihn, das mit dem Verstand nicht zu durchdringen war und sie abschreckte. Am liebsten wäre sie augenblicklich vor ihm geflohen.
"Vielen Dank", zwang sie sich dennoch zu sagen.
Er verneigte sich. "War mir eine Ehre, bei einer Dame Ihrer Schönheit, Mademoiselle", erwiderte er und lächelte ihr zu, wobei er sie weiter anstarrte.
Die Schneise schloss sich wieder hinter Prudence, und der Gentleman wurde von der Masse verschluckt. Ihr schauderte, als ob sie ein kalter Wind gestreift hätte. Obwohl er sie Mademoiselle genannt hatte, sprach er doch ohne ausländischen Akzent. Bestimmt war er kein Franzose, aber vielleicht war er weit gereist. Doch als sie nun Molly erblickte, die neben ihr stand, vergaß sie den sonderbaren Mann wieder und gab sich ganz den Aufregungen des Tages hin.
Molly begrüßte sie mit einem breiten Lächeln.
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