Stumme Angst (German Edition)
Handschellen im Schaufenster stimmt ihn depressiv, würde wenigstens ab und zu das Repertoire in der Auslage wechseln.
Zu Hause ist noch für das Abendessen gedeckt. Er knallt die sauberen Teller in die Spüle, zieht die Blume aus der Vase und schmeißt sie in den Mülleimer. Was soll auch dieses alberne Grünzeug in der Wohnung.
Dabei legt er sich zurecht, was er sagen könnte, wenn sie anruft: Was die Scheiße soll, würde er als Erstes fragen, ob sie Schluss machen will als Zweites, warum sie ihm dann gestern Morgen noch den Schlaf aus den Augen gewischt hat als Drittes. Nein, Letzteres nicht, viel zu kitschig. Aber was er gerne wissen würde: Warum eine dumme Bemerkung von ihm sie wirklich so gestört hat.
Danach könnte er auflegen und ihre Anrufe ignorieren. Es würde guttun, sie verstummen zu lassen.
Sollte sie allerdings nicht anrufen – zum ersten Mal seit langer Zeit kündigt sich wieder dieses Ziehen in der Magengrube an. Ein Gefühl, das nur aufkommt, wenn man spürt, dass etwas zerfällt.
Er setzt sich eine Frist, nimmt sich vor, irgendwen anzurufen, wenn sie sich bis vier Uhr nicht meldet. Selma vielleicht, ihre Tante, doch das wäre wie ihre Eltern anzurufen, hätte Anna noch welche.
Sein zweiter Gedanke gilt Marie: Gute Freunde wissen immer, was los ist.
Die Zeiger stehen auf elf Uhr. Ein paar Stunden will er noch warten; ist zu stolz, gleich zum Hörer zu greifen.
Er beschließt, in der Zwischenzeit zu arbeiten, und fährt seinen Laptop hoch. Was er an diesem Wochenende schreiben wollte: eine Geschichte über die letzten Elefanten auf Sumatra. Doch noch hat er keine Perspektive gefunden, hat nur den ersten Satz: Wir kommen nicht durch.
Den ersten Satz und das Bild, das diese Tiere hinterlassen haben: ihre Versuche, an einer bestimmten Stelle den Fluss zu durchqueren, wie sie es schon seit Generationen tun. Doch ihre natürlichen Lebensräume sind mit Siedlungen oder Bananenplantagen durchzogen. Ihr Nahrungsgebiet beschränkt sich auf wenige noch zusammenhängende Waldstücke, weswegen es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Tier kommt. Die Elefanten dringen zu den Häusern der Menschen vor, sind aggressiv, werden erschossen.
Zu dritt waren sie vom Sender vor Ort, ihre erste Dokumentation einer Reihe über den Klimawandel: Eigentlich wollten sie über die Waldbrände berichten, doch die Elefanten liefen ihnen direkt vor die Kamera, stellten auf anschauliche Weise dar, was auf Sumatra geschieht.
Er sucht die Fotos heraus, die er vor drei Monaten gemacht hat, und schaut sich alles noch einmal an: die Häuser, die Straßen, ein Elefant im Dickicht. Der Bulle inmitten der Siedlung, wie er gegen die Hauspfosten tritt. Von seinem Gebrüll in der Dämmerung können die Bilder nicht erzählen, auch nicht von der sonst so erschreckenden Stille in der Siedlung, ihrer Bewohner, die mit ihren Kindern im Schutz der Hütten saßen. Wie ihre Augen in der Dämmerung glitzerten. Etwas wie Angst las er darin, etwas wie Mitleid.
Der Elefant trat an die immer gleiche Stelle, wieder und wieder. Als wollte er sagen: Wir kommen nicht durch.
Als er Anna die Bilder zeigte, sagte sie: »Du solltest dich aufs Fotografieren konzentrieren.«
»Und du aufs Malen.«
»Das ist was anderes.«
»Ach?«
»Sag nicht Ach so wie Loriot!«
»Okay. Wie du willst.«
Deswegen sagte er nichts mehr. Nicht zu ihrer Entscheidung, Medizin zu studieren, jedenfalls. Obwohl er gerne gesagt hätte: Deine Eltern werden dadurch nicht wieder lebendig.
Er schreibt den ersten Satz in ein leeres Dokument: Wir kommen nicht durch. Zweiter Satz: Wir drehen uns im Kreis. Immer wieder drehen wir uns im Kreis, bis wir erneut ankommen, hier an dieser Stelle.
Er findet: An diesem Wochenende gilt das auch für ihn. Er wird nicht weiterkommen. Nicht mit diesem Text, nicht mit irgendwas. Er schaut in sein Postfach, findet ein paar Mails von Freunden, aber keine Nachricht von Anna oder von Emma.
Kapitän stupst ihn an, zu Recht: Genauso gut könnte man in einer Sauna sitzen. Draußen werden es an die 30 Grad sein, der Hund denkt an die Felder, an Flusswasser und Hasen in Gebüschen.
»Such endlich deine Augenklappe«, fordert er ihn auf.
Such aktiviert ihn, er bringt ihm die andere Socke, die er vorhin nicht finden konnte.
Liam packt eine Flasche Wasser in den Rucksack, einen Roman, ein großes Handtuch. Leckereien für Kapitän.
Im Hausflur lässt er ihn frei laufen und klemmt sein Fahrrad unter den Arm. Stülpt Kapitän
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