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Zeitriss: Thriller (German Edition)

Zeitriss: Thriller (German Edition)

Titel: Zeitriss: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ride
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1.
Provinz Shantung, China
Festungsruine
Ortszeit: 7.13 Uhr
24. November 1898
    Das weite Gelände war mit frischem, feinem Schnee überzogen, dem ersten dieses Winters. Die Morgensonne schien durch den kahlen Birkenwald auf die verfallene Ostmauer. Die Festung Shantung war seit über hundert Jahren von keiner Garnison mehr bemannt worden. Im reichen, blühenden China der Ming-Zeit war sie eines der äußeren Bollwerke gewesen, aber das lag Jahrhunderte zurück. Jetzt war sie eine Ruine, die mit ihren eingefallenen Dächern zum desolaten Zustand der nördlichen Provinzen passte. Dürren hatten das Land verwüstet, und die einstige Kornkammer Chinas lag brach.
    In einem herrschaftlich goldenen Gewand, auf dem ein furchterregender fünfklauiger Drache prangte, ging Randall Chen auf die gut zweihundert barbrüstigen Männer zu, die sich zu Kampfübungen in den Gemäuern bereit machten. Ihrem Ritual gemäß trainierten sie sechs Tage in der Woche kurz nach Sonnenaufgang. Bauern, Landarbeiter und Arbeitslose waren sie und bildeten eine Bürgerwehr von beträchtlicher Wirksamkeit. Während Randall über den verschneiten Platz auf sie zuschritt, zogen einige Kämpfer das Schwert aus der Scheide, andere einen Pfeil aus dem Köcher, den Langbogen noch auf dem Rücken.
    Randall war bewusst, dass das Drachengewand ihren Groll erregte. »Ihr habt den Mord an den zwei deutschen Missionaren begangen«, rief er ihnen zu. Sein Ton war ruhig, sein Mandarin fehlerfrei. »Welche Anmaßung!«
    Seine Worte lösten Verwirrung, sogar Furcht aus, sodass nun auch die Übrigen zur Waffe griffen und Kampfhaltung einnahmen. Die Bogenschützen wichen zurück und legten einen Pfeil auf. In der Morgenstille hörte man sie Bogen und Sehne spannen. Mindestens fünf Männer hatten ein Gewehr, das sie beieinander kniend auf den Eindringling anlegten. Die Schwertkämpfer schwärmten zu einem weiten Halbkreis aus. Vier Kämpfer rannten zu der verfallenen Außenmauer, um nachzusehen, ob dies ein Hinterhalt war – nur ein Diplomat würde sich so furchtlos ihrer Kämpferschar nähern. Dieser Mann gehörte, nach seiner Kleidung zu urteilen, zur kaiserlichen Familie, und sein unverfrorener Auftritt bedeutete zweifellos, dass die kaiserlichen Soldaten nicht weit waren.
    »Ihr seid also die gefürchteten Rebellen der Gesellschaft der Großen Schwerter«, rief Randall.
    Schweigen.
    Die Blicke von zweihundert Männern waren fest auf ihn gerichtet. Inzwischen war er so nah herangekommen, dass sie seine Augenfarbe erkennen konnten – ein fremdartiges Saphirblau, eine aufsehenerregende Farbe, die sie noch bei keinem Landsmann gesehen hatten. Randall spürte, dass sie Angst hatten, dass ihnen das Herz in der Brust hämmerte. Ihr warmer Atem kondensierte in der stillen, kalten Luft zu weißen Schwaden. Er selbst fand es erregend, dass er bei so vielen Männern solche Angst erzeugen konnte.
    Wer ihre Furcht lenken kann, hat eine ernstzunehmende Streitmacht an der Hand, dachte er.
    Randalls Schritte knirschten leise im Schnee, seine Hände hatte er locker in die weiten Ärmel des Drachengewands gesteckt. Er trug weder Waffe noch Rüstung. Was er trug, waren ein mit großen Smaragden und Rubinen besetzter roter Gürtel, schwarze Sandalen und auf dem Rücken eine Ledermappe.
    In dieser Gegend würde schon allein für den Gürtel ein Mord begangen.
    Die Provinz Shantung war in ganz China als Heimat des Konfutse berühmt, der zweieinhalbtausend Jahre zuvor gelebt hatte; seine Weisheit und sein ehrenvolles Vermächtnis jedoch waren hier längst vergessen. Seit zehn Sommern gab es Missernten, aber keine Nahrungsreserven. Der gewaltige Gelbe Fluss war im Vorjahr über die Ufer getreten und hatte tausend Dörfer zerstört. An einer Stelle hatten über zweihundertvierzig Hektar Land hüfttief unter Wasser gestanden. Aber auch das war kein Segen gewesen, da eine anschließende Heuschreckenplage vernichtete, was noch übrig geblieben war.
    Erschwerend kam hinzu, dass China durch den Krieg mit Japan geschwächt war. Um die Eroberung der Mandschurei zu verhindern, fanden im Osten beständig Kämpfe statt, die Shantungs magere Ressourcen verzehrten. Die kleinen gelben Männer waren bereit, dem Reich der Mitte Mineral- und Eisenerze zu entreißen, um die eigenen Fabriken damit zu versorgen. Und was sie dem chinesischen Volk antun wollten, war noch viel schlimmer.
    Randall war nun umringt von den verzweifelten Männern Shantungs, die kämpften, um ihre Familien zu ernähren. Nur

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