Sturm der Barbaren
die Familie vom Tisch erhebt und Elthya und das jüngere Dienstmädchen aus dem Schatten treten, um den Tisch abzuräumen, winkt Kien’elth seinen Sohn Lorn zu sich. »Ich möchte mit dir sprechen, Lorn.«
»Ja, Ser.« Lorn, der etwas größer ist als sein Vater und auch größer als sein jüngerer Bruder und zudem über den weiteren Brustumfang verfügt, folgt Kien’elth über den äußeren, oberen Säulengang, bis sie die offen stehende Tür des Arbeitszimmers erreichen.
Das Arbeitszimmer wird von zwei Öllampen zu beiden Seiten des hellen Eichenschreibtischs beleuchtet. Die silbernen Lampenschirme tauchen den Raum in ein gleichmäßiges, mattes Licht, sodass nur schwache Schatten auf die warme, helle Holztäfelung und die bernsteinfarbenen Lederrücken der Bücher im eingebauten Schrank fallen. Der Duft von Freesien und gebackenen Birnäpfeln liegt noch in der Luft und erinnert Lorn an die glasierten Törtchen, den Abschluss des Abendessens.
Kien’elth dreht sich um und steht zwischen Schreibtisch, der bis auf die Lampen leer ist, und Pult, auf dem der schimmernde weiße Cupridiumfüller steht, der ein weiteres Zeichen seines Magierstandes darstellt. Das polierte Kästchen aus Weißeiche, in dem er sein Chaos-Glas aufbewahrt, steht auf einem kleinen, achteckigen Tisch neben dem eigentlichen Schreibtisch.
Lorns Blick streift das Glas, schon oft hat er die Macht gespürt, wenn sein Vater ihn aus der Ferne damit beobachtet hat.
Nach einem Augenblick der Stille wendet sich der Magier an seinen dunkelhaarigen Sohn. »Ich habe mit Lektor Hyrist’elth gesprochen.«
Lorn nickt und wartet ab, was sein Vater zu sagen hat.
»Er ist nicht unzufrieden mit deinen Leistungen, Lorn, aber er ist auch nicht restlos zufrieden damit. Er und ich, wir glauben beide, dass du nur lernst – und zwar alles, was man dir vorlegt, und noch mehr –, weil es einfacher für dich ist zu lernen, statt dich gegen uns zu stellen.« Kien’elth lächelt. »Ich habe dich auf dem Korfalfeld beobachtet. Dort wirkst du wie entfesselt, fast erleichtert. Ich wünschte, du würdest solche Freude am Lernen und an deinen Studien zeigen.«
»Ich lerne, so viel ich kann, Ser«, antwortet Lorn bedächtig. Er weiß, dass er seine Worte nun mit größter Sorgfalt wählen muss, denn sein Vater spürt jede noch so kleine Unwahrheit – so wie übrigens alle in der Familie –, und Lorn will auf keinen Fall, dass sein Vater ihn ständig mit dem Chaos-Glas verfolgt. Er kann es fühlen, wenn Kien’elth – oder ein anderer Magi’i – ihm mit dem Glas nachspürt. Zwar gibt es nichts, was er verbergen müsste, jedoch will er seinen Vater auch nicht zu genaueren Beobachtungen ermuntern. »Es stimmt, dass mir das Lernen gegenwärtig keine so große Freude bereitet, aber ich werde beharrlich weitermachen, bis das wieder der Fall ist.«
»Ganz Cyador ruht auf den Schultern der Magi’i«, behauptet der ältere Mann. »Ohne die Chaos-Türme könnten die Feuerwagen nicht angetrieben werden, und weder Lanzenkämpfer noch Fußsoldaten noch die Ernten könnten dorthin gebracht werden, wo sie gebraucht werden. Die Lastkähne könnten den Großen Kanal nicht befahren. Ohne die Chaos-Hammer müssten die Steine für die Straßen von Hand behauen werden, und es würden Jahre vergehen, bis eine einzige Straßenmeile gepflastert wäre. Allein die Große Oststraße … Ohne die Chaos-Gläser könnten wir die Stürme nicht vorhersehen oder die großen Angriffe der Barbaren …«
Lorn hört seinem Vater geduldig zu.
»… und deshalb ist es eine große Ehre und deine erhabene Pflicht, ein Magier zu werden. Das ist das Ziel, das du anstreben solltest.«
»Ich verstehe, Vater.«
»Lorn … du nickst höflich und du beschäftigst dich fleißig mit den verschiedensten Dingen; du beherrschst die Kunst der Chaos-Übertragung, ja sogar mehr als das, und du hast sogar die Grundzüge des Heilens von Jerial gelernt, obwohl dies mehr eine dienende Kunst denn eine magische ist. Und du besitzt, das weiß ich, die Fähigkeit, die Wahrheit zu lesen, und das ist etwas, was nur wenige jemals wirklich beherrschen.«
»Ist es nicht genau das, was von mir verlangt wird, Ser?«
»Du bist zu mehr fähig, zu viel mehr. Du besitzt das Talent, einer der ganz großen Magier zu werden. Doch dazu bedarf es mehr als nur der Begabung.« Kien’elth sieht seinem ältesten Sohn eindringlich in die Augen. »Ich habe immer gehofft, dass du das erkennen würdest.« Er zuckt die Schultern. »Ich habe
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