Sturm der Herzen
deswegen ein langweiliger Kerl sein muss? Ist etwas falsch daran, ein ruhiges, geordnetes Leben vorzuziehen, statt in ständigem Chaos zu waten?«
Er sah so verwundert und ehrlich ratlos aus, dass Mrs Sherbrook nur verzweifelt den Kopf schütteln konnte. Ihr hochgewachsener, gut aussehender Sohn war fast vierzig Jahre alt, sogar in ihren Augen war es fast schon unnatürlich, dass er ihr nie Grund zur Sorge gegeben hatte. Es hatte keine wilden Abenteuer oder Klemmen gegeben, in die er in seiner Jugend geraten war. Er war immer schon liebevoll, höflich und pflichtbewusst gewesen, kurz man konnte sich stets darauf verlassen, dass er das Richtige tat und selbst inmitten einer Krise einen kühlen Kopf behielt, wofür sie ehrlich dankbar war … die meiste Zeit wenigstens. Er war ein Sohn, auf den man stolz sein konnte, und das war sie. Sehr sogar. Das einzige Problem bestand darin, dass sie fand, er hätte wenigstens ein einziges Mal alle Vorsicht in den Wind schlagen sollen und sich auf eine Art skandalöse Eskapade einlassen sollen. Nun, natürlich nicht allzu skandalös, verbesserte sie sich im Geiste, nur genug, um seinem Leben etwas Aufregung zu verleihen und ihn aus seiner Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit zu rütteln, zu der er entschlossen schien. Als er sie weiter so ratlos anschaute, gab sie zu: »Nein, daran ist nichts falsch oder auszusetzen. Ich bin aufrichtig dankbar, dass du mir nie einen Anlass geliefert hast, mein Gesicht in Scham abzuwenden. Ganz im Gegenteil, ich bin immer sehr stolz auf dich gewesen, aber Marcus, du stehst noch nicht im Begriff, dich aufs Altenteil zurückzuziehen. Trotzdem hast du dich immer so verhalten wie jemand, der doppelt so alt wie du ist.« Beinahe wehmütig fügte sie hinzu: »Wolltest du nie der Eintönigkeit des Landlebens entfliehen? Hast du dich nie nach einem Abenteuer gesehnt oder das Bedürfnis verspürt, über die Stränge zu schlagen und das Gewöhnliche, alle Routine hinter dir zu lassen?«
»Willst du damit sagen, du möchtest, dass ich ein Lebemann werde?«, verlangte er ungläubig zu wissen. »Soll ich der Nachbarschaft Nahrung für Klatsch liefern, indem ich Leib und Leben riskiere, weil ich mit meinem Phaeton ein Wettrennen gegen die Postkutsche fahre, das Haus mit Windhunden und Spielern und vielleicht auch noch leichten Mädchen fülle, während du dich in deinen Räumen versteckst, um nicht in deinem eigenen Heim belästigt zu werden? Ein feiner Kerl wäre ich dann, bei meiner Seel’.«
»Nein, nein«, rief Mrs Sherbrook, von dem Bild entsetzt, das er da malte. »Natürlich nicht«, sagte sie ruhiger, etwa eine Sekunde später. »Es ist nur, dass du immer so ein guter Sohn gewesen bist - ich könnte mir keinen besseren wünschen -, aber der Tod deines Vaters, als du selbst noch so jung warst, hat dir so viel Verantwortung aufgeladen …«
»Ich war dreiundzwanzig, Mutter, und kein Schuljunge mehr.« Er lächelte sie an. »Alt genug, um zu wissen, was ich will. Wenn ich mich nach den Freuden Londons gesehnt hätte, hätte mich nichts davon abhalten können, sie zu genießen.« Er grinste. »Und das habe ich von Zeit zu Zeit auch getan. Sogar sehr.« Er setzte sich auf das Sofa neben sie, nahm eine ihrer Hände und küsste sie. »Mutter, warum nur fällt es dir und allen anderen, Julian und Charles mit eingeschlossen, so schwer zu glauben, dass ich mit meinem Leben ganz zufrieden bin?«, fragte er verwundert. »Versteh mich nicht falsch: Wenn ich das nicht wäre, würde ich es ändern. Du musst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass es mir Freude macht, auf dem Land zu leben. Ich begleite dich gerne auf deiner jährlichen Reise zur Saison nach London und …«
»Und machst auf dem Absatz kehrt und fährst nach Sherbrook Hall so schnell wieder zurück, wie es der Anstand erlaubt«, fügte seine Mutter hinzu.
»Schuldig, stimmt. Aber der Wirbel aus Gesellschaften und Bällen, der dich so erfreut, langweilt mich. Und was Balletttänzerinnen angeht oder um hohe Einsätze irgendwo in Pall Mall spielen oder gar mich unter den Tisch saufen …« Er schnaubte abfällig. »Solche fraglichen Vergnügungen haben mich noch nie gereizt.« Er lächelte verschmitzt. »Siehst du es nicht? Ich bin mit meinem Leben zufrieden.«
Ihr Blick ruhte nachdenklich auf ihm. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an deiner Stelle mit ›zufrieden‹ begnügen würde.«
»Was? Du möchtest, dass ich unglücklich bin?«, zog er sie auf. »Unzufrieden? Elend?«
Innerlich
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