Sturm der Herzen
ich von ihm immer nur als ›der Gentleman‹ gedacht und von Collard als ›der andere‹.« Sie blickte unsicher von ihrem Mann zu Jack. »Es ist schwer zu erklären, aber der Gentleman war beinahe höflich und zuvorkommend mir gegenüber.«
»Ist das alles, was Sie uns sagen können?«, fragte Jack unverhohlen enttäuscht.
Isabel runzelte die Stirn, sie versuchte sich an jedes Wort zu erinnern, das sie vom Gentleman gehört hatte. »Er war besorgt«, sagte sie. »Er sagte etwas darüber, dass Pläne geändert werden mussten, dass nichts wie geplant gelaufen war. Ich denke, er hat Collard nicht getraut.«
»Wurde Whitley erwähnt?«, fragte Marcus.
Isabel schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben nur sehr wenig vor mir gesprochen, und Whitleys Name ist kein einziges Mal gefallen.«
Es war ein niedergeschlagenes Trio, das da in Marcus’ Arbeitszimmer saß. Zwar freuten sich alle, dass Isabel unversehrt zurückgekehrt war, aber alle drei wussten auch, dass das schicksalhafte Memorandum in den Händen des »Gentleman« war, der sich zweifellos auf dem Weg nach Frankreich befand. Sie hatten versagt, und deswegen mussten vielleicht viele Männer ihr Leben lassen.
Jack schüttelte sich und leerte sein Glas: »Ich muss nach London aufbrechen. Je eher Roxbury von der jüngsten Entwicklung erfährt, desto eher kann er dafür Vorsorge treffen, dass Wellesleys Pläne geändert werden.«
Trotz der späten Stunde versuchte Marcus nicht, ihn umzustimmen. »Du hast alles, was du benötigst?«
Jack lächelte spöttisch. »Ja, sogar Vollmond, der mir den Weg beleuchtet.«
Er verabschiedete sich und verließ das Zimmer.
Marcus hatte nicht vergessen, dass der Squire und der Konstabler kurz nach Tagesanbruch kommen würden, daher stand er schon im Morgengrauen auf, obwohl er den heftigen Wunsch verspürte, noch neben seiner warmen schlafenden Frau liegen zu bleiben. Er kleidete sich an und war bereit, sich dem Tag zu stellen. Der Squire und der Konstabler waren über Collards Tod angemessen erschrocken, aber sie konnten nichts unternehmen, nur den Kopf schütteln. Die Identität seines Mörders blieb unbekannt, und man kam überein, dass es vermutlich ein anderer Schmuggler gewesen war. Marcus hatte keinen Grund, weshalb er ihnen widersprechen sollte. Keiner verlor ein Wort darüber, wie seltsam es war, dass Collard auf dem Boden von Sherbrook Hall in der Nähe der Stallungen umgekommen war.
»Ich habe den Mann nie gemocht und wusste immer schon, dass es mit ihm noch ein böses Ende nehmen würde«, stellte der Squire fest, als er sich wieder in den Sattel seines Pferdes schwang.
»Ja, allerdings«, stimmte ihm der Konstabler zu, ein grobschlächtiger, aber herzlicher Mann, der schon mal ein Auge zudrückte, wenn es um Schmuggler ging. »Keine Frage, Collard war ein übler Bursche. Ich kann nicht behaupten, dass mich sein Ende überrascht.« Er tippte sich an den Hut und fügte hinzu: »Ich werde jemanden schicken, der die Leiche holt. Machen Sie sich keine Gedanken. Ihnen und Ihrer Frau meine besten Wünsche.«
Nachdem diese Pflicht zu seiner Zufriedenheit erledigt war, machte sich Marcus langsam auf den Rückweg zum Haus. Collards Tod würde nicht weiter untersucht werden, zwar wussten die Dienstboten, dass ihre Herrin in irgendetwas verwickelt gewesen war, doch es war am Ende gut ausgegangen, und darauf allein kam es an. Jack war bereits auf dem Weg nach London, und es würden Schritte unternommen werden, um Wellesley und seine Truppen vor Schaden zu bewahren. Dass Isabels Gentleman-Entführer entkommen war, gefiel ihm zwar gar nicht, aber Marcus entschied, dass er hier großzügig sein konnte: Isabel war in Sicherheit, und das war ihm am allerwichtigsten.
Marcus und Isabel verbrachten einen herrlichen Tag zusammen, spazierten Händchen haltend durch die Gärten, blieben ab und zu stehen, um einen Kuss an den vielen schattigen Stellen auszutauschen, die dazu einluden. Als an dem Abend die Dämmerung anbrach und sie gerade ein intimes Essen zu zweit auf der Terrasse seitlich des Hauses beendet hatten, hörten sie Hufschläge und das Rattern und Knarren eines schnell näher kommenden Gefährtes. Mit Isabel an seiner Seite schlenderte Marcus zur Vorderseite des Hauses.
Eine elegante Reisekutsche, gezogen von vier aufeinander abgestimmten Braunen, bog in die breite Auffahrt ein. Laternen an allen vier Ecken der Kutsche funkelten in der Dämmerung, und je ein Paar Vorreiter eskortierte die Reisenden zu beiden Seiten.
Der
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