Sturm: Roman (German Edition)
wusste ich, dass ich nicht länger bei euch bleiben konnte.«
Dirk ließ die Hände sinken. Es war nicht der Alte, der das gesagt hatte. Es gab auch kein Lagerfeuer, das ihn zu versengen drohte, sondern nur den flackernden Schein einer Lampe, der sich an der Wand hinter ihnen spiegelte, ohne sie selbst aus dem Schatten zu reißen.
»Wie hätte ich dir das erklären sollen?«, flüsterte Kinah. »Hätte ich dir am Frühstückstisch sagen sollen: ›Ich habe gestern Nacht gesehen, wie du die Garagentür aufgestoßen hast und auf mich zugewankt bist, mit einem Messer in der einen Hand und Akuyis Kopf in der anderen‹?«
Dirk war vor Entsetzen wie gelähmt. Der Gedanke, jemand könnte seine Tochter auf diese grauenvolle Art töten, war zu viel. Der Gedanke, er selbst könnte es gewesen sein, der sie getötet hatte, sprengte jedwede Vorstellungskraft.
Für eine Zeitspanne, die er nicht im Geringsten bemessen konnte, hockte er einfach nur da und nahm nichts um sich herum wahr. Das Grauen ebbte nicht ab, aber nach einer Weile kam etwas anderes hinzu.
Fragen. Die Frage, was das alles zu bedeuten hatte. Die Frage, warum sich Kinah von diesem Trugbild hatte beeinflussen lassen.
Und die Frage danach, was gerade mit ihm geschehen war. Er hatte die sengende Sonne gespürt, die vom Himmel auf ihn niederbrannte. Der Sand hatte zwischen seinen Zähnen geknirscht und der Wüstenwind ihm das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Körper geblasen. Er hatte sich zu dem Alten an das Lagerfeuer gesetzt und bis zum Einbruch der Dunkelheit mit ihm gesprochen. Es war alles so plastisch gewesen, so real.
Und doch wohl nichts anderes als die Reaktion seines Unterbewusstseins auf das, was ihm Kinah offenbart hatte.
Oder etwas, das sich Schulweisheit nicht erträumen ließ …
»In Akuyis Augen war noch Leben«, fuhr Kinah unbarmherzig fort. »Sie hat mich vorwurfsvoll angesehen, während du näher kamst. Du hast eine Blutspur hinter dir hergezogen. Und dann geschah das Schrecklichste.«
Dann geschah das Schrecklichste? Was konnte schrecklicher sein als das, was sie ihm bereits erzählt hatte?
»Akuyi starrte mich voller Schmerz und Verzweiflung an. Und sie öffnete die Lippen. Laute drangen hervor, fürchterliche Laute, wie ich sie noch nie gehört hatte und auch nie wieder hören will.« Kinah erbebte. »Die Laute formten sich zu Silben und die Silben zu Wörtern.
›Ma… ma! Geh! Ret… te mich!«‹
Kinah schluchzte leise. Dirk war wie erstarrt. Er dachte an Akuyis Worte. In der Nacht lag sie da wie eine große Puppe, Papa. Wie eine Puppe, die zittert!
Er hätte auch gezittert, wenn er von einer solchen Vision heimgesucht worden wäre. Aber nicht nur das. Er wäre ins Schlafzimmer gestürzt, hätte Kinah gepackt und wäre mit ihr ins Wohnzimmer gegangen, wo Akuyi sie nicht hören konnte. Und dann hätte er Kinah alles erzählt und kein noch so grausiges Detail ausgelassen. Es hätte gar nicht anders gekonnt, es wäre einfach aus ihm herausgesprudelt.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Dir?« Kinah schüttelte heftig den Kopf. »Was wäre denn passiert, wenn ich es dir gesagt hätte? Du wärst doch bloß zur Garage gelaufen, hättest noch einmal die Tür kontrolliert, sie vielleicht mit einem Stück Holz verrammelt, und wärst dir dabei wie ein Held vorgekommen. Und dann hättest du dein kleines verwirrtes Frauchen in die Arme genommen und ihm erklärt, dass es sich das alles nur eingebildet hat.«
»Aber …«, begann Dirk, ließ den Rest des Satzes jedoch ungesagt. Protest war sinnlos. Kinah kannte ihn gut – vielleicht sogar besser als er sich selbst. Vermutlich hätte er tatsächlich so reagiert. Und wäre danach zur Hausbar gegangen, hätte zwei Gläser Schnaps eingeschenkt … und schließlich beide hinuntergekippt, weil Kinah garantiert dankend abgelehnt hätte.
»Nein, dir konnte ich nichts erzählen«, stieß Kinah hervor. »Und Akuyi erst recht nicht. Ich habe mich wieder ins Bett gelegt, um sie nicht zu beunruhigen. Aber das war ein Fehler. Ich fürchte, sie hat etwas gemerkt.«
»Ja, das glaube ich auch«, sagte Dirk. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du deine Sachen gepackt hast und einfach auf und davon bist.«
»Weil es nicht anders ging!« Kinah nahm Dirks Hand und drückte sie fest. »Ich bin froh, dass ich endlich mit dir darüber reden kann. Aber damals ging es wirklich nicht. Eine solche Warnung bekommt man nur einmal. Und am Morgen danach schickte mir Jan eine SMS. Es geht los, du
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