Sturm: Roman (German Edition)
mir auch, als hättest du einen Schluck Wasser bitter nötig.«
Er warf Dirk die Feldflasche über das Feuer hinweg zu. Fast wäre sie an ihm vorbeigeflogen. Im letzten Moment packte Dirk sie, schraubte sie hastig auf und setzte sie sofort an die Lippen.
»Das, was du dir am meisten ersehnst, musst du in Maßen genießen«, sagte der Alte.
Er hatte gut reden, der alte Narr. Dirk dachte gar nicht daran, seinem Ratschlag zu folgen, und kippte das kalte Nass mit einem Schwung in seinen Mund.
Eine Sekunde später beugte er sich vor, würgte und spuckte das Wasser wieder aus.
»Du solltest sorgsam mit deinen Schätzen umgehen«, sagte der Alte. »Es ist töricht, sie durch Unbedachtsamkeit zu verschwenden.«
Dirk richtete sich keuchend wieder auf. Vor seinen Augen flimmerten bunte Punkte, die sich mit dem Funkenflug des Feuers zu etwas Neuem, Eigenständigem verbanden. Mit zitternden Händen führte er die Flasche erneut zum Mund, und diesmal war er vorsichtiger. Langsam und bedächtig trank er einen winzigen Schluck.
Es ging gut. Doch sein Durst wurde durch das bisschen Wasser dermaßen gesteigert, dass er beinahe wieder in den alten Fehler verfallen wäre und die Feldflasche gierig in wenigen Zügen geleert hätte. Er musste sich zur Zurückhaltung zwingen, aber es war ein unglaublich beglückendes Gefühl, endlich wieder trinken zu dürfen … und es war viel zu schnell vorbei. Dirk legte den Kopf weit in den Nacken. Die Feldflasche gab nur noch wenige Tropfen her, sosehr er sie auch schüttelte. Es reichte gerade, um seine Lippen ein letztes Mal zu benetzen.
»Mehr.« Er räusperte sich, streckte dem Alten die Feldflasche entgegen und wiederholte mit allem Nachdruck: »Mehr! Bitte!«
Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Nicht jetzt. Dein schlimmster Durst ist gelöscht, und wir müssen miteinander reden.«
»Mein Durst ist noch lange nicht gelöscht …«
»Genauso wenig wie deine Sehnsucht nach Kinah, obwohl du sie nun gefunden hast.« Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem knorrigen Lächeln. »Es ist doch immer dasselbe. Hast du dir nicht gewünscht, sie wenigstens noch einmal zu sehen, ihr noch einmal nah sein zu können?«
Dirk nickte unwillkürlich.
»Und hast du nicht geglaubt, damit wäre deine Sehnsucht gestillt?« Wieder nickte Dirk. »Und dann musstest du feststellen, dass sie erst richtig entfacht wurde. Genau wie jetzt dein Durst, obwohl du schon eine ganze Flasche Wasser getrunken hast.«
»Es stimmt, dass ich Durst habe«, sagte Dirk. »Deswegen bitte ich dich, mir noch mehr Wasser zu geben.«
Der Alte breitete seine Arme aus. Der glühende Stock in seiner rechten Hand zog eine Leuchtspur durch die Dunkelheit, die während des kurzen Gesprächs wie ein Dieb herangeschlichen war und sie nun einhüllte. Nur am Horizont war noch ein schmaler roter Streifen zu erkennen. »Siehst du hier irgendwo Wasser?«
»Nein. Ich sehe bloß die Nacht, die sich über das Land senkt.« Dirk hob die Flasche hoch. »Aber irgendwo musst du die Flasche doch gefüllt haben.«
Der Schamane ließ die Arme wieder sinken. »Nicht ich habe sie gefüllt. Es war deine Sehnsucht nach einer Feldflasche mit Wasser, die es dir ermöglicht hat, sie zu finden. So, wie dich deine Sehnsucht auch zu deiner Liebsten geleitet hat.«
»Also verweigerst du mir Wasser?«
»Aber nein.« Wieder lächelte der Alte seltsam. »Ich verweigere dir gar nichts. Du selbst bist es, der sich Dinge verweigert.«
»Das ist doch Blödsinn!« Dirk befeuchtete mit der Zunge seine Lippen. Er hatte das beängstigende Gefühl, dass sein Körper schon wieder dabei war, auszutrocknen. »Kinah ist wegen irgendeiner lächerlichen Vision von mir fortgegangen. Und leider hat sie vergessen, mir ihre neue Adresse zu hinterlassen.«
Der Schamane lachte leise auf. »Sie hat sich vor dir verbergen können, weil du ihr nie wirklich nah warst. Du hast geflissentlich all die kleinen Anzeichen übersehen, die darauf hindeuteten, dass es sie von dir wegtrieb, hin zu ihrer großen Aufgabe.« Er wurde schlagartig ernst. »Sie hat versucht, dir vieles nahezubringen: das Wissen der Ahnen und das, was sie als ihre Lebensherausforderung angenommen hat.«
»Ich dachte, das sei unser gemeinsames Leben«, protestierte Dirk.
»Das war ein Teil davon.« Der Alte begann wieder mit dem Stock im Feuer zu stochern, als würde es noch nicht hell und heiß genug lodern. »Aber für ihre anderen Anliegen, für das, was sie in der Tiefe ihres Herzens
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