Sturm: Roman (German Edition)
irgendetwas nicht stimmte. Er hätte schon zuvor misstrauisch werden müssen, weil das Scheinwerferlicht nicht reflektiert wurde, sondern in der Wand verschwand.
Und das hatte einen ganz einfachen Grund: Die Wand war keine Wand. Sie bestand nicht aus Fels, sondern war höchst durchlässig. Es handelte sich um eine tief liegende Wolkenbank.
Ohne jedwedes Ruckeln tauchte die Lisunov in die Wolken ein und durchflog sie mit tiefem Motorengebrumm. Dann zogen die letzten Wolkenfetzen an ihnen vorbei, und Dirk blickte hinaus in die klare Sternennacht.
Jurij stieß zischend die Luft aus. »Das war die Schlucht des Teufels«, sagte er. »Wenn man die hinter sich hat, hat man es geschafft. Jetzt haben wir genug Wind unter den Flügeln, um die Motoren abstellen zu können.«
»Du willst die Motoren abstellen?«, fragte Dirk entgeistert.
»Na ja, wir werden doch vom Atem der Götter getragen, nicht wahr?« Jurij grinste und musste im gleichen Moment husten. »Nein, Jungchen, keine Sorge. Es wäre Leichtsinn, sich vollkommen auf Mächte zu verlassen, deren Wankelmut berüchtigt ist. Außerdem haben wir noch eine Prüfung vor uns – die Landung.«
»Ich verstehe kein Wort«, bekannte Dirk. Er befürchtete, dass der Alte wirr redete und bald endgültig ins Delirium fallen würde.
»Mit etwas Glück haben wir gerade auch den Hubschrauber abgehängt«, fügte Jurij hinzu.
Dirk schluckte. »Ja. Aber …«
Er wusste nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Es war unwichtig. Er starrte eine, zwei, drei Minuten lang hinaus in die sternenklare Nacht. Das Hämmern seines Herzens ließ allmählich nach. Es war ja nichts passiert … Das versuchte er sich zumindest einzureden. Sie flogen in einer grundsoliden Maschine, der selbst der Beschuss nicht viel hatte anhaben können. Und wenn Jurij recht hatte, war ihr Landeplatz nicht mehr weit entfernt. Er musste durchhalten, durfte sich auf keinen Fall selbst verrückt machen.
Merkwürdigerweise halfen ihm diese Gedanken. Früher hatten sie ihre Wirkung immer verfehlt. Doch damals hatte er noch keine Ahnung gehabt, wie chaotisch ein Flug wirklich werden konnte, und dank dieser neuen Erfahrung relativierte sich seine Wahrnehmung. Er begann zu begreifen, dass es nichts nutzte, sich aufzuregen, bevor nicht wirklich etwas geschehen war.
»Der Weg.« Dirk sah Kinah eindringlich an. »Wir gehen gleich irgendwo runter. Wie kommen wir weiter?«
»Der Weg wird sich finden.« Der Wind wirbelte durch Kinahs Haar wie bei einer rasanten Fahrt in einem Cabriolet, und die Erregung, die sich in ihren Zügen malte und ihnen etwas Wildes verlieh, ließ sie wie höchstens dreiundzwanzig statt wie Mitte dreißig aussehen. Sie war die attraktive junge Frau, in die sich Dirk vor vielen Jahren Hals über Kopf verliebt hatte.
Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass Kinah mit Akuyi und ihm auf einer Hotelterrasse vor einem Eisbecher oder Cappuccino saß und darüber redete, warum alles so hatte kommen müssen, wie es gekommen war. Eine lächerliche Rechtfertigungsvorstellung, die nur darauf abzielen würde, ihm klarzumachen, dass sie vor drei Jahren einen Schnitt vollzogen hatte, der sich nicht rückgängig machen ließ. Kinah dachte doch gar nicht daran, jemals zu ihm zurückzukommen. Dirk hatte nicht vergessen, was ihr Vater in jenem Brief über den Mann geschrieben hatte, mit dem sie Kinder zeugen würde. Er war der harmlose Depp, den man benutzte und dann wegwarf. Gerade gut genug, seine Gene beizusteuern und den Nachwuchs aufzuziehen, während die Partnerin auf irgendwelchen Selbstverwirklichungs- oder Weltrettungstrips war.
Auch wenn sie Akuyi tatsächlich fanden und nach Deutschland zurückkehrten – es würde alles nur noch schlimmer werden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Kinah ihm ihre gemeinsame Tochter freiwillig überlassen würde, falls es zur endgültigen Trennung zwischen ihnen kam. Sie würde alles daransetzen, ihm Akuyi wegzunehmen, und ihn alleine zurücklassen …
Aber dabei würde er nicht mitspielen, das schwor er sich in diesem verrückten Moment, in dem sie einander im verwüsteten Cockpit einer alten russischen Maschine gegenübersaßen, die ein angeschossener Pilot auf ihrem von der Verzweiflung diktierten Kurs hielt. Vielleicht konnte er die drohende Trennung von seiner Tochter ja verhindern, indem er an Kinahs Gerechtigkeitssinn appellierte und etwas in die Waagschale warf, das er erst vor wenigen Stunden erfahren hatte.
»Das
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