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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zweite Kind …« Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und das lag nicht nur an der Kälte, die sich allmählich durch die Kleidung in seinen Körper fraß. »Du hast in der Grotte von einem zweiten Kind gesprochen.«
    Kinahs Hand, die gerade ihre Haarsträhnen zähmte, hielt bewegungslos inne.
    Dirk erkannte sofort, dass Kinah in den ›Erstarrungsmodus‹ gefallen war, wie er ihn nannte. Er war die Vorstufe dazu, dass sie sich ihm entzog. Für gewöhnlich verschwand sie dann stunden- oder tagelang in ihrem Atelier, um an den Skulpturen zu arbeiten, die ihm in all den Jahren so fremd geblieben waren.
    Die Skulpturen – ihre Kinder. Eine Bezeichnung, die er stets äußerst unpassend gefunden hatte. Aber was, wenn sie etwas mit jenem mysteriösen zweiten Kind zu tun hatte?
    Der Gedanke war zu schwer zu fassen und entglitt ihm. Egal, was Kinahs Bemerkung über das zweite Kind zu bedeuten hatte, er war sicher, dass sich etwas ganz anderes dahinter verbarg, als er sich vorstellte. Zumindest hoffte er es.
    »Ich habe die Masken zurückgelassen, damit sie über dich und Akuyi wachen«, sagte Kinah. Dirk erriet ihre Worte mehr, als dass er sie hörte. Nachdem die Lisunov die Wolkenwand durchstoßen hatte, hatte Jurij die Geschwindigkeit gedrosselt, dennoch dröhnten die Motoren laut genug, um normale Gespräche unmöglich zu machen.
    Dirk zog seine Beine eng an den Körper und schlang die Arme um sie, begann jedoch trotzdem vor Kälte und Erschöpfung zu zittern. »Wie können Masken über uns wachen?«
    Er hatte diese Frage bereits früher gestellt, aber nie eine für ihn befriedigende Antwort erhalten.
    »Keine Maske gleicht der anderen, was ihre Kraft und Bedeutung betrifft.« Kinah rieb ihre Handflächen aneinander, um sie zu wärmen. »Manche beschützen, manche bedrohen. Manche drücken Dinge aus, die in einem entlegenen Winkel unserer Seele lauern, verschlossen hinter dicken Mauern. In manche sind alte Bilder und Sehnsüchte eingeflossen, die uns seit Menschengedenken vorantreiben und dennoch von Generation zu Generation immer weiter unserer bewussten Wahrnehmung entgleiten.«
    Dirk erinnerte sich voller Wehmut daran, dass sie früher bei Kerzenschein und in romantischer Stimmung über derartige Themen geredet hatten. »›Du musst sie nur finden, in dir, und dann musst du bereit sein, sie anzunehmen«‹, zitierte er. »Ist es das, was du mir sagen willst?«
    Kinah lächelte. Sie wirkte in diesem Moment auf rätselhafte Weise schwach und unendlich stark zugleich. »Wie ich sehe, hast du nicht alles vergessen, was ich dir im Laufe der Jahre erzählt habe.«
    »Nein, das habe ich nicht«, antwortete Dirk. »Ich habe sogar etliches verstanden und einiges annehmen können. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich bei dir vor verschlossenen Türen stehe. Wieder einmal.«
    Kinah verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht bei mir – bei dir selbst. Oder besser gesagt: in dir selbst. Dort musst du suchen, und dort wirst du die Antworten finden.«
    Dirk dachte ein paar Sekunden lang über Kinahs Worte nach. »Jetzt ist aber der falsche Zeitpunkt dafür, Kinah. Wenn mir in meinem Leben je die Muße zur Meditation und inneren Einkehr gefehlt hat, dann in diesem Moment.«
    »Das mag dir so vorkommen.« Kinah seufzte vernehmlich. »Aber ist es nicht gerade der Sturm, der Mauern einreißen kann? Sind es nicht Schicksalsschläge und Katastrophen, die uns immer wieder auf uns selbst zurückwerfen?«
    Das Gespräch nahm eindeutig eine Wendung, die Dirk nicht gefiel. »Ich will keine Katastrophen, ich will Antworten. Ich will auch keinen Sturm, sondern meine Ruhe.«
    »Die wirst du nicht bekommen, solange du nicht mit dir selbst im Reinen bist.« Kinah drehte den Kopf zur Seite, sodass er nur noch ihr wunderschönes, dichtes Haar sah. »Da draußen braut sich etwas zusammen. Schon seit Jahren. Vielleicht sollte ich auch sagen: schon seit Jahrzehnten. Oder Jahrhunderten. Die Menschen verleugnen ihre Wurzeln. Sie haben keinen Blick mehr für das Offensichtliche. Und damit zerstören sie sich selbst und die Welt, in der sie leben.« Sie wandte sich wieder Dirk zu. »Der große Sturm wird kommen. Und wenn wir ihn nicht an seinem Ursprung bekämpfen …«
    »Du meinst, wir müssen den Thunderformer vernichten.«
    »Thunderformer …« Kinah zuckte mit den Schultern. »Was soll das sein? Eine Waffe, die Menschen konstruiert haben, um andere Menschen zu vernichten, die aber letztendlich die gesamte Menschheit in Gefahr bringen wird?

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