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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Rechtschaffenheit und das Wissen der Ahnen zu lehren.« Der Alte fuhr mit der Hand über den Boden, und als er sie hob, rieselten Rinnsale von Sand zwischen seinen Fingern hindurch. Gebilde mit wenigen Zentimetern Durchmesser, ovaler Form und geriffelter, weißgrauer Oberfläche blieben in seiner Handfläche zurück. Muscheln. »Einst war hier ein Meer. Aber das ist schon eine Ewigkeit her. Vierzig Millionen Jahre – nach deiner Zeitvorstellung, die nur Zahlen kennt, statt Entwicklungen zu verstehen.«
    Dirk begriff nicht, was dieser Themenwechsel sollte. »Der Brief, den du Kinah mitgegeben hast …«
    »War kein Brief. Sondern ein Vermächtnis, wie man es in meiner Heimat normalerweise nicht in Schriftform weitergibt, sondern von Angesicht zu Angesicht.« Der Schamane betrachtete die Muscheln in seiner Hand. »Dies ist ein mystischer Ort. Vielleicht sagen dir diese Worte nicht viel. Aber womöglich spürst auch du die Energie, die hier schneller fließt als anderswo, und den Atem der Zeit, der unsere Umgebung in einem ganz eigenen Rhythmus schwingen lässt.«
    »Mag sein, dass ich so etwas spüre«, murmelte Dirk. »Aber wenn schon – mystisch ist daran bestimmt nichts!«
    Der Schamane schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Sogar im Angesicht der Wahrheit leugnest du sie noch. Selbst dann, wenn es um deine Frau und deine Kinder geht.« Er atmete tief ein und aus. »Wären unsere Ahnen so ignorant gewesen wie du, dann würde es die Menschheit schon lange nicht mehr geben.«
    »Das ist doch Blödsinn!«, begehrte Dirk auf. »Ich tue alles für meine Familie!«
    »Familie …« Der Schamane schwieg für eine Weile, als wollte er das Wort ganz bewusst wirken lassen. »Die lange Kette der Familie wird über Jahrtausende geschmiedet. Deswegen ist es auch so wichtig, zu wissen, was die Ahnen dachten und empfanden. Damit meine ich nicht einzelne unserer Vorfahren, die womöglich schwach, dumm oder starrköpfig waren. Ich meine die Weisheit der Generationen.«
    »Und was sagt uns diese Weisheit?«
    »In Bezug auf diesen Ort sagt sie uns eine ganze Menge«, knüpfte der Alte seinen Faden weiter. »Unsere Ahnen spürten seine Macht. Sie begriffen, dass sich das Meer und die Wüste an dieser Stelle einen Kampf liefern. Sie wussten, dass sie sich nur mit Vorsicht und voller Ehrerbietung in diesem Gebiet bewegen durften. Aber sie wussten auch, dass sie von hier aus in eine andere, fremde Welt aufbrechen konnten – in die, aus der du stammst.«
    »Warum wollten sie ihre Welt denn überhaupt verlassen?«
    »Weil sich ihre Lebensbedingungen veränderten.« Der Alte ließ die Muscheln von einer Hand in die andere gleiten. »Sie mussten sich neue Lebensräume erschließen, weil die Versteppung und Verwüstung ihrer Heimat immer weiter voranschritt. Deswegen versammelten sie sich an mystischen Orten, fingen ihre Kraft und Magie in Ritualen ein und machten sich dann auf die große, abenteuerliche Reise in fremde Länder.«
    »So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gehört.« Dirk schluckte, um den in seiner wunden Kehle aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. »In den Grotten von Al Afra, kurz vor der Sturmflut. Geht das jetzt auch hier los?«
    »Ja und nein.« Ein Schatten von Besorgnis huschte über das Gesicht des alten Mannes. »Wenn wir nichts dagegen unternehmen, wird es zu einer Katastrophe kommen, gegen die der Sturm in Marokko nur ein harmloses Vorspiel war. Das Gleichgewicht der großen Mächte ist durch das, was dort geschehen ist, bereits gestört. Jetzt fehlt nicht mehr viel, um die Welt den Kreaturen des Sturms auszuliefern, die ihre Zähne in uns schlagen und uns mit ihren Klauen zerreißen.«
    »Ich bin ein solcher Idiot«, entgegnete Dirk bitter. »Kinah verlässt mich, weil ein Superwirbelsturm droht, und ich tue auch noch alles, damit ich selbst darin umkomme!«
    Das Gesicht des Schamanen verfinsterte sich. »Du sprichst wie ein Mann, der das Herz eines Hasen hat. Man muss den Sturm bekämpfen. Und das, was ihn nährt«
    »Und was wäre das?«
    »Die Sturmdämonen der Nacht und die Sturmgeister des Tages.« Der Alte warf die Muscheln hoch und fing sie wieder auf. »Schon für sich alleine können sie verheerend wirken, aber vereint sind sie in der Lage, ganze Kontinente zu verwüsten. Normalerweise begegnen sie einander höchstens flüchtig an der Grenze zwischen Tag und Nacht und sind unfähig, von der dunklen zur hellen Seite zu wechseln oder umgekehrt. Aber an Orten wie diesem fällt von Zeit zu

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