Sturm: Roman (German Edition)

einander näher brachte, als es so manchem Stammesfürsten vergangener Tage lieb war. Obwohl die Vermischung mit frischem Blut durchaus Vorteile hatte.« Der Weißhaarige zuckte mit den Achseln. »So erklären es die einen. Die anderen sagen einfach, dass eine Zwillingsfigur weiß und die andere schwarz sein muss, um zu zeigen, dass die Ibeji sowohl alles Gute als auch alles Böse in sich tragen.«
    »Und was …« hat das alles mit mir zu tun?, wollte Dirk fragen, aber da streckte der Schamane ihm die beiden Figuren entgegen und sagte: »Nimm sie an dich. Sorge dafür, dass Kinah sie bekommt und ihnen den rituellen Platz einräumt, den sie verdienen.«
    Dirk wollte aufstehen und zu dem Schamanen gehen. Aber er konnte sich immer noch nicht bewegen.
    »Du musst die Zwillinge schützen, unter allen Umständen.« Der alte Mann sackte sichtlich zusammen, ließ die beiden Zwillingsfiguren jedoch nicht sinken. Er atmete schwer. »Die Gegensätze miteinander aussöhnen, das ist der Schlüssel. Nur mit der daraus gewonnenen Stärke kann man die Sturmgeister und die Sturmdämonen wieder trennen. Das ist es, was du tun musst.«
    Dirk öffnete den Mund und wollte etwas fragen, aber der Schamane winkte ab.
    »Es ist zu spät für Erklärungen. Sie kommen. Sie werden mich …« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden.
    Wuchtige Schritte dröhnten durch die Höhle.
    Dirk hörte gebrüllte Kommandos, metallisches Klicken, er sah, wie sich der Lichtstrahl einer starken Lampe durch das Halbdunkel fraß, bis er den Schamanen erreichte. Der alte Mann schien im grell-weißen Licht zu glühen, als träfe ihn der Strahl eines Lasers … »Shoot him!«
    Ein knapper Befehl, dann knallte auch schon ein Schuss.
    Der Schamane bäumte sich auf. Die schwarze Zwillingsfigur flog in hohem Bogen davon, krachte ein gutes Stück von ihnen entfernt auf den Boden und überschlug sich einige Male. Die weiße Figur hingegen schien geradezu in seinen Händen festzukleben.
    Dirk sah mit grausamer Deutlichkeit, wie sich die Brust des alten Mannes rot färbte und sich sein Gesicht verzerrte. Der Schamane öffnete den Mund, doch über seine Lippen kam nur ein unverständliches Röcheln. In seinen Augen las Dirk weder Angst noch Schmerz, sondern grenzenlose Entschlossenheit und die Aufforderung, auf keinen Fall aufzugeben.
    Dann brach der alte Mann zusammen und stürzte kopfüber in das Feuer.

Kapitel 35
    Die Geräusche herabfallenden Gerölls, das Rieseln von Sand und das Heulen des Windes, der sich an Felsvorsprüngen brach, waren nicht das Einzige, was Dirk hörte. Da war auch noch ein anderer Laut, der ihn beunruhigte: das entfernte Rattern aus einer oder mehreren Maschinenpistolen, plötzlich losbrechende Feuerstöße, die genauso schnell wieder verstummten. Die Anzahl der sich überlagernden Schüsse ließ ihn befürchten, dass mehr als nur eine Handvoll Männer an der Schießerei beteiligt waren, und in seiner aufgeheizten Fantasie malte er sich eine regelrechte Schlacht um den Thunderformer aus. Womöglich waren mehrere Gruppierungen aufeinandergestoßen, die diese teuflische Waffe in ihren Besitz bringen wollten.
    Doch selbst wenn das so war, konnte er nichts daran ändern und hatte zunächst einmal genug mit sich selbst zu tun. Er kauerte in der Nische, in der er mit brummendem Schädel aufgewacht war, und versuchte, seine Gedanken zu ordnen und einen Plan zu entwickeln –oder sich zumindest über seine nächsten Schritte klar zu werden. Das Licht, das durch die Öffnung in der Decke drang, reichte aus, um ihn die Umgebung erkennen zu lassen, und natürlich war da kein Lagerfeuer und erst recht nicht der Leichnam eines alten, weißhaarigen Mannes, der hinterrücks erschossen worden war.
    Direkt vor ihm lag der Teil des Walrückgrats, an dem er sich festgeklammert hatte. Es war zersplittert, als habe die urzeitliche Kreatur erst jetzt endgültig ihr Leben ausgehaucht. Einige der Wirbel erinnerten ihn in Form und Farbe an die Ibeji, die ihm der Schamane gezeigt hatte und die angeblich seine Kinder symbolisierten. Von den Zwillingsfiguren selbst fehlte allerdings jede Spur.
    Dirk starrte aus zusammengekniffenen Augen nach oben. Dort, wo er endgültig den Halt verloren hatte, verlief eine Art natürliche Rampe, ein gekrümmter Felsen, über den er wohl hinabgeschlittert war und der kurz über dem Boden endete. Ihm hatte er offenbar zu verdanken, dass nichts Schlimmeres passiert war. Das konnte sich allerdings jederzeit ändern, schließlich