Sturm: Roman (German Edition)
es ist eine Herausforderung, sich ihr zu stellen und in jedem Augenblick die richtige Entscheidung zu treffen. Das aber kann nur gelingen, wenn man seine eigene Vergangenheit annimmt und die seiner Vorfahren. Davon hast du leider keine Ahnung, obwohl sich Kinah alle Mühe gegeben hat, dir die Denkweise alter Kulturen nahezubringen.«
»Ich wüsste nicht …« Dirk schluckte mehrmals, um das raue Gefühl in seinem Hals zu vertreiben. »Ich wüsste nicht, wie mir das Wissen alter Kulturen jetzt weiterhelfen könnte.«
»Überhaupt nicht, wenn du es nicht richtig anstellst«, knurrte der Alte. »Es geht nicht um Kulturen, wie du sie verstehst, nicht um alte Gemäuer und Kunstwerke oder um vordergründiges Wissen. Es geht um das Erbe unserer Ahnen, um ihr tiefes Verständnis für die immerwährenden Abläufe, um den Rhythmus, den sie uns vorgeben und den wir nur dann erfassen können, wenn wir uns auf wirklich große Zeitabläufe einlassen. Es geht darum, wie sie es geschafft haben, Herausforderungen zu meistern und Gegensätze zu vereinen. Oder ist dir noch nicht aufgefallen, dass sich unsere Lebensumstände im steten Wandel befinden und nur diejenigen überleben, die sich diesen Wandel zunutze machen, statt sich ihm entgegenzustemmen?« Der alte Mann schlang die Arme um seinen Oberkörper, als fröre er. »Die Zeit rinnt uns durch die Finger wie der Sand, der aus der trügerischen Höhlendecke über uns rieselt.«
Dirk wollte unwillkürlich nach oben sehen, doch seine Nackenmuskeln gehorchten ihm nicht.
»Es ist eine schlechte Angewohnheit von mir, selbst einem Uneinsichtigen wie dir Einsicht vermitteln zu wollen«, sagte der alte Mann. »Davon sollte ich mich nun endlich befreien. Genau wie von meinen anderen schlechten Angewohnheiten.«
Dirk versuchte, sein Gewicht zu verlagern und sich aufzurichten, aber auch das gelang ihm nicht.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seine Wahrnehmung war … gestört. Er spürte weder seine Beine noch seine Arme. Er konnte nicht einmal sagen, ob er saß oder lag.
Das machte ihm Angst.
War da nicht ein Sturz gewesen? War er nicht aus großer Höhe hinabgestürzt? Lag er womöglich gerade in seinem eigenen Blut? War er gelähmt oder tödlich verletzt?
Diese Gedanken hatten trotz allen Schreckens etwas Unwirkliches. Genau wie der alte Mann, der derart mitgenommen aussah, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen.
»Du bist einen langen Weg gegangen.« Der Schamane streckte die Hand aus und zeichnete eine imaginäre Linie in die Luft. »Einen Weg, der dich weit weg geführt hat von deiner eigentlichen Bestimmung.« Seine Hand verharrte mitten über dem Feuer, sodass sie fast im Rauch verschwand. »Einen Weg, der dich zwang, durch Feuer und Sturm zu gehen, bevor du hierher gelangtest. Entscheidend ist, was du jetzt tun wirst.«
Dirk versuchte, den Kopf ein klein wenig anzuheben. Selbst das war unmöglich.
Lag er im Sterben? War diese undeutliche Vision ein letztes Aufflackern seines Unterbewussten, das ihn darauf vorbereiten wollte, dass seine Zeit gekommen war?
»Wo ist Noah?«, fragte er. »Wie geht es ihm?«
Der Schamane nickte. »Gut, dass du dich nach ihm erkundigst. Ich werde dich zu ihm führen. Aber zuerst muss ich dir eine Frage stellen: Erinnerst du dich an das, was ich dir von der Macht berauschender Substanzen erzählt habe?«
Dirk hätte den Kopf geschüttelt, wenn er es gekonnt hätte. »Kaum. Du hast mich vor Drogen gewarnt und gesagt, Mario hätte irgendetwas damit zu tun. Aber was spielt das jetzt für eine Rolle?«
»Mario, der Mann, den du Freund nanntest. Und Jan Olowski, der Mann mit den vielen Gesichtern.« Der Schamane hustete trocken. Es klang qualvoll. »Es ist nicht gut, Gefährten zu haben, die sich an etwas festhalten wollen, an dem man sich nicht festhalten kann.«
Jan und Drogen? Ja, das passte. Dirk hatte sich sowieso schon darüber gewundert, wie unterschiedlich sich der Mann im Holzfällerhemd bei ihren Begegnungen verhalten hatte. Mal plump und aggressiv, mal intellektuell und überlegen, mal fahrig und nervös.
»Du selbst hast versucht, dich am Alkohol festzuhalten«, fuhr der alte Mann fort. »Das ist unmöglich, wie du mittlerweile weißt. Man kann sich nicht an einer Flüssigkeit festhalten. Auch nicht an einem Stoff, der einem das Gehirn vernebelt.«
»Das mag sein.« Dirk schluckte erneut. »Aber warum ist das so wichtig?«
»Weil es wichtig ist, zu wissen, woran man sich wirklich festhalten kann, wenn alles
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