Sturm: Roman (German Edition)
auseinanderfällt«, antwortete der Schamane.
»An seiner Familie«, sagte Dirk prompt. »Und an seinen Freunden.«
»Ja«, bestätigte der Schamane. »Und an seinem Glauben.«
»Glauben … Damit kann ich wenig anfangen.«
»Genauso wenig wie mit Familie und Freunden«, sagte der Weißhaarige. »Dein so genannter Freund Mario hat versucht, deine Frau ins Bett zu kriegen. Hast du dich schon einmal gefragt, warum er dich derart herausgefordert hat?«
Dirk blinzelte gegen den Sand an, der mittlerweile als dichte Wolke zwischen ihm und dem alten Mann niederging. »Vielleicht, weil ich ihm irgendwann mal auf die Zehen getreten bin?«
»Nein. Das kann ein Mann ertragen, wenn man ihm die Zehen nicht gleich bricht.« Die Stimme des Schamanen wurde dumpfer und rauer. »Der Grund liegt in Mario selbst. In seiner Schwäche. In seiner Sucht, sich mit Nebensächlichkeiten zu beweisen. Seine Selbstbestätigung bei Frauen zu suchen. Und dabei nicht einmal vor dem Versuch zurückzuschrecken, seinem angeblich besten Freund die Frau auszuspannen.«
»Kann sein. Aber …«
»Nichts aber«, unterbrach ihn der Alte. »Diese Schwäche führt dazu, dass er sich nicht ernst nimmt. Weder sich noch seine Ehre noch seine Freunde.«
Dirk dachte einen Herzschlag lang darüber nach. Ja, das mochte sein. Auf den ersten Blick wirkte Mario eloquent und charmant, im Grunde war er jedoch unsicher und haltlos.
»Freunde sind Spiegelbilder der eigenen Seele.«
Dirk wollte etwas erwidern, ließ es dann aber sein. Das unaufhörliche Rieseln vor seinen Augen verschleierte die Umgebung, und auch seine Gefühle lagen wie hinter einem Schleier verborgen. Mario, die bröckelnde Decke über ihnen, sein gelähmter Körper – all das berührte ihn weit weniger, als normal gewesen wäre.
Das Einzige, an das er denken konnte, waren Kinah, Akuyi und Noah. Er musste einen Weg finden, sie zu retten. Und vielleicht führte dieser Weg ja über den Schamanen, seine blumigen Erklärungen und Andeutungen.
»Es geht hier doch nicht um die Seele«, sagte er, »sondern darum, was ich tun kann.«
»Woher sollst du wissen, was du zu tun hast, wenn deine eigene Seele nicht den rechten Weg weiß?« Die Stimme des Alten ging beinahe im Prasseln des Feuers unter. »Du musst akzeptieren, dass Mario ein Spiegelbild deiner Seele ist. Er spiegelt deine innere Leere wider, deine Haltlosigkeit, deine Schwäche. Aber auch deine Fähigkeit, in dem Bereich zu bestehen, in dem es um geschäftlichen Erfolg und Geld geht.«
Er machte eine kleine Pause, während der seine Worte in Dirks Bewusstsein drangen.
»Ich habe einst etwas an einen Menschen geschrieben, der mir sehr wichtig ist.« Der Schamane wiegte seinen Oberkörper hin und her. »Ich schrieb über einen Mann, der sich wie ein jämmerlicher, verfaulter Sack verhält, in den Moder und Schimmel eingedrungen sind.«
»Aber …« Dirks Herzschlag beschleunigte sich. »Das habe ich doch schon einmal gehört!«
»Ja, aus dem Munde eines Menschen, der auch dir sehr wichtig ist.« Als der alte Mann weitersprach, klang seine Stimme noch knorriger als zuvor. »Es gab nicht viel, das ich meiner Tochter mit auf den Weg geben konnte. Sie muss mein Erbe weitertragen, die gesammelte Weisheit der Ahnen, und das als Frau und zudem in der Fremde. Es erfordert große Kraft und große Demut, dieses Schicksal zu tragen. Und es erfordert einen festen Halt. Hast du ihr diesen Halt geben können?«
Dirk starrte den Alten fassungslos an. »Kinah ist deine Tochter?«
Der Weißhaarige rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Es spricht nicht gerade für dich, dass du das erst jetzt begreifst. Ja, ich bin Shimeru, der Vater von Kinah und Großvater deiner beiden Kinder. Der Kinder, die das Prinzip des Ausgleichs verkörpern. Der Zwillinge, die die Gegensätze vereinen können.«
Die Eröffnung verschlug Dirk die Sprache. Dabei passte natürlich alles zusammen. Kinah hatte ihm mehr als einmal erzählt, dass ihr Vater ein Schamane war. Außerdem war während all seiner rätselhaften Begegnungen mit dem alten Mann dessen Interesse an Kinah unübersehbar gewesen, genauso wie die leicht abfällige Art, mit der er Dirk behandelt hatte – wie ein Schwiegervater, der mit der Wahl seiner Tochter nicht einverstanden ist.
»Wenn du tatsächlich der Vater von Kinah bist«, sagte Dirk leise, »dann bist du der Mann, der mir meinen Sohn weggenommen hat.«
»Aber nein. Nicht weggenommen. Ich habe ihn nur auf den richtigen Weg gebracht, um ihn
Weitere Kostenlose Bücher