Sturm: Roman (German Edition)
wie ein guter alter Freund. Er taumelte zwei, drei Schritte weit, da zerriss ein Blitz das Dunkel und blendete ihn so sehr, dass er stöhnend in die Knie ging. Vielleicht rettete ihm das das Leben.
Der Knall folgte dem Blitz so spät, als handele es sich um ein in mindestens zwei Kilometer Entfernung tobendes Gewitter, aber er war derart ohrenbetäubend, dass Dirk unwillkürlich die Hände auf seine Ohren presste und keuchend die Luft ausstieß. Der Donner hallte unerträglich laut und krachend von den Wänden der Grotte wider. Dirk begriff nicht, was hier geschah. Es konnte kein Gewitter in einer Grotte geben, es sei denn, sie war an der Stelle, an der er sich jetzt befand, nach oben hin aufgerissen und schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt. Aber solche Erklärungen spielten im Augenblick keine Rolle. Er musste von hier weg.
Gerade als er sich wieder aufrappeln wollte, hörte er ein metallisches, hartes Klicken, dessen Echo beinahe bedrohlicher klang als das des Donnerschlags. Dirk zog unwillkürlich den Kopf ein.
Da knallte es auch schon ein zweites Mal. Diesmal war kein Blitz vorangegangen, es gab nichts weiter als einen erneuten, ohrenbetäubenden Knall und dann ein pfeifend-peitschendes Geräusch, das durch die Grotte jagte, bevor es nach einem harten Aufschlag verstummte …
Dirk erkannte, dass es nicht der Donnerschlag eines Gewitters gewesen war, den er gehört hatte, sondern dass auf ihn geschossen wurde und dass das, was er hatte davonheulen hören, ein Querschläger gewesen war. Kleine, dunkelhäutige Krieger mit nackten Oberkörpern, die mit etwas anderem als einer Steinschleuder auf ihn schossen? Das war lächerlich. Die schemenhaften Gestalten, die er zuvor gesehen hatte, würden ihn wohl kaum mit halbautomatischen Schusswaffen durch die Grotte jagen, und selbst die Vorstellung, dass sie einen altmodischen Vorderlader stopfen und damit auf ihn schießen könnten, war vollkommen abstrus.
Was nichts daran änderte, dass irgendjemand bereits zwei Schüsse auf ihn abgegeben hatte, ohne dass er wusste, wer oder warum.
Er presste sich auf den Boden und robbte los. Seit seiner Begegnung mit der Ratte hatte er sich nie wieder freiwillig auf den Bauch gelegt und schon gar nicht professionelles Robben gelernt, wie es Soldaten für den Fall beigebracht wurde, dass sie in feindliches Feuer gerieten. Entsprechend ungelenk waren seine Bewegungen – viel zu hektisch, um effizient zu sein, und nicht besonders geeignet, die letzten Kraftreserven in seinem zerschlagenen Körper zu mobilisieren, damit er schnell genug vorankam.
Wieder blitzte es auf, doch diesmal nicht nur ein Mal, sondern gleich vier oder fünf Mal hintereinander, und dann erfüllte plötzlich gleißende Helligkeit die Stelle vor ihm, ein Scheinwerfer, dessen Lichtstrahl sich im brackigen Wasser spiegelte, in das er, ohne es zu ahnen, beinahe hineingerobbt wäre. Seine Augen funktionierten immer noch nicht richtig, aber sie ließen ihn etwas sehen, auf das zu stoßen er die ganze Zeit erwartet und befürchtet hatte: den allerschlimmsten Albtraum seiner Kindheit, den Grund, warum er nie auf die Idee gekommen wäre, sich in freier Natur hinzulegen, weder auf eine Isomatte noch auf eine Luftmatratze, einfach überhaupt nicht.
Aber jetzt, ausgerechnet in einer Höhle in Marokko, in der ein Verrückter auf ihn schoss, lag er auf dem Bauch, und das dermaßen nah an einem schmutzigen Tümpel, dass es nur einer Bewegung bedurft hätte, um mit dem Gesicht in das stinkende Wasser einzutauchen. Und ausgerechnet hier starrten ihn zwei tückische schwarze Augen an, vibrierten Barthaare, reckte die größte Ratte, die er je zu Gesicht bekommen hatte, den Kopf und schnüffelte, roch seine Angst, triumphierte, spürte, dass sie das perfekte Opfer gefunden hatte …
Dirk stieß einen erstickten Schrei aus. Er wollte aufspringen, wollte weglaufen vor diesem Monstrum, wollte so schnell wie möglich fort, wollte, musste fliehen.
Aber er tat nichts dergleichen. Er blieb einfach liegen, wie gelähmt von seiner Panik. Damals, bei seiner ersten Begegnung mit einer Ratte, hatte er den Fehler gemacht, aufzuspringen und davonzulaufen, zumindest hatte er sich das nachher in unzähligen durchschwitzten Nächten vorgeworfen. Er hätte nur liegen bleiben müssen, dann wäre die Ratte verschwunden. Die Erinnerung zuckte in einem immer schnelleren Rhythmus durch seinen Kopf, hart und erbarmungslos. Seine Mutter, ihr Gesicht, ihre Sorge, aber auch ihre Anklage, als sie sich
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