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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sie machte keinerlei Anstalten, das zu tun, wovon seine Mutter damals geredet hatte: abzuhauen, nur, weil sie nicht geärgert wurde.
    Sie wollte selbst ärgern. Sie wollte töten, vernichten. Dirk sah es in ihren Augen, von denen er sich nicht lösen konnte.
    Aber er war kein Fünfjähriger mehr. Er war erwachsen. Er war kein wehrloses Opfer, sondern jemand, der wusste, dass ein kleiner Terrier in einer Minute mehr als zwei Dutzend Ratten totbeißen konnte.
    Was nicht hieß, dass er diese Ratte totbeißen wollte. Aber totschlagen wäre keine schlechte Idee.
    Er sprang genauso auf, wie er es bereits als kleiner Junge getan hatte: indem er sich mit den Händen kraftvoll abstieß, in den Knien einfederte und hochschnellte. Die Ratte war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Während sie auf ihn zujagte, spritzte Wasser auf und hüllte sie in einen feinen Nebel. Es war ein fast unwirklicher Anblick. Sie war blitzschnell, und so, wie sie jetzt zum Sprung ansetzte, als wüsste sie ganz genau, wie man einen Menschen angreifen muss, hatte sie auch eine gute Chance, ihre Zähne in Dirks Arm zu schlagen.
    Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Dirk nahm seine Umgebung mit fast übernatürlicher Klarheit wahr. Die Ratte stieß sich ab … »Papa!«
    Es war Akuyis Stimme, ganz eindeutig Akuyis Stimme. Dirk, der sich eben noch geschworen hatte, die Ratte auf gar keinen Fall aus den Augen zu lassen und gebührend zu empfangen, riss den Kopf hoch und starrte in die Richtung, aus der er Akuyis Stimme zu hören geglaubt hatte.
    »Papa!«
    Die Ratte grub ihre Zähne in Dirks rechten Handrücken. Er spürte einen scharfen Schmerz, der seinen Arm hochjagte, und dann das Gewicht der Ratte, die nicht gleich wieder losließ, sondern sich wie ein tollwütiger Hund in seine Hand verbiss. Aber all das drang gar nicht zu seinem Bewusstsein vor.
    »Papa!«
    Der dritte Aufschrei riss ihn aus seiner Erstarrung. Er stürmte los. Seine Füße tauchten derart wuchtig in den Tümpel ein, dass das Wasser hochgewirbelt wurde und in sein Gesicht spritzte. Er achtete nicht darauf. Von dort hinten rechts hatte er Akuyis Stimme gehört …
    Akuyi! Wie kam sie hierher?
    Die Ratte hing nach wie vor an seiner Hand, wurde durchgeschüttelt, reagierte darauf, indem sie noch fester zubiss, durch die Haut- und Muskelschicht und in den Knochen. Der Schmerz war so fürchterlich, dass Dirk bei anderer Gelegenheit wahrscheinlich das Bewusstsein verloren hätte. Doch jetzt konnte er ihn nicht daran hindern, weiterzulaufen – zu seiner Tochter.
    Der Scheinwerfer, der vorhin ein paar Mal aufgeflackert war, bevor er ihn und die Ratte angestrahlt hatte, leuchtete diesen Bereich der Grotte kaum noch aus. Aber das Licht genügte, um Dirk erkennen zu lassen, dass neben einer zerklüfteten, weit in den Raum hineinreichenden Felsformation eine Gestalt stand, zierlich und vielleicht einen halben Kopf kleiner als er.
    Dirk stieß einen Schrei aus, sprang über einen Gesteinsbrocken, den er beinahe übersehen hätte, und schrammte an einem scharfen Grat vorbei. Die Ratte ließ immer noch nicht von ihm ab, ganz im Gegenteil, ihr Kiefer schloss sich so fest um seine Hand wie der eines Kampfhundes.
    Der Untergrund wurde abschüssig und mündete in eine diesmal nicht mit Wasser gefüllte Vertiefung, was Dirk jedoch nicht bemerkte, weil er nur Augen für die schlanke Gestalt mit den schwarzen Haaren hatte, den dunklen Engel, der sich in diese Grotte verirrt haben musste. Dirk hatte nicht damit gerechnet, Akuyi hier zu finden, er hatte es nicht einmal gehofft; ganz im Gegenteil, er hatte es für ausgeschlossen gehalten.
    Aber sie war da. Nur noch wenige Meter. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber sie hatte die Hand erhoben, als wollte sie ihm zuwinken, eine für Akuyi typische, scheue, verletzliche Geste, die noch weniger in diese Grotte passte als ihre Anwesenheit. Dirk wollte nichts weiter als zu ihr, so schnell wie möglich …
    Und genau das wurde ihm zum Verhängnis. Er begann zu rutschen, schlitterte über feuchten Fels und Geröll, streckte die Hände aus, um sich irgendwo festzuhalten, aber da war nichts, und rutschte weiter. Er ruderte wild mit den Armen, aber das machte es nur noch schlimmer. Unaufhaltsam raste er hinab in die Kuhle – und spürte dann, wie der Boden unter ihm plötzlich nachgab …
    Es krachte und knirschte um ihn herum, dann brach er ein. Unwillkürlich warf er die Arme hoch, und mit ihnen die Ratte, deren nackter Schwanz in sein Gesicht peitschte. Es

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