Sturm: Roman (German Edition)
über sein Bett gebeugt und jenen verhängnisvollen Satz gesagt hatte:
»Irgendwie musst du die Ratte geärgert haben.«
Geärgert? Er und die Ratte geärgert? Das war das Schlimmste für ihn gewesen – dass ihm seine Mutter danach auch noch Vorwürfe gemacht hatte, anstatt ihn einfach in den Arm zu nehmen und den uralten Zauberspruch aller Mütter zu sagen, das Einzige, was Heilung und wirklichen Trost brachte: Es wird alles wieder gut.
Nein, das hatte sie nicht gesagt, sondern: »Du hättest die Ratte nicht ärgern dürfen. Warum bist du nicht einfach liegen geblieben?«
»Beim nächsten Mal bleibe ich ganz bestimmt liegen – und wenn tonnenweise Ratten kommen und mich auffressen wollen!«, hatte er geschrien, sich umgedreht und mit einer Mischung aus Empörung und Schmerz in sein Kopfkissen geheult, wie es nur Fünfjährige vermochten.
Fünfjährige, die neben ihrem Lieblingssoldaten auch das Vertrauen in die himmlische Gerechtigkeit verloren hatten, den Glauben, dass irgendetwas sie beschützen würde, wenn es wirklich gefährlich wurde. Ich hätte nur liegen bleiben müssen, hatte er erst trotzig, dann beinahe ergeben gedacht, viele Jahre lang, bis sich diese Botschaft ganz tief in sein Gehirn eingegraben hatte. Niemals wollte er den alten, fatalen Fehler wiederholen, der ihm die hässliche, entzündete Wunde eingebracht hatte, die unzähligen Arzt- und Klinikbesuche, das besorgte Gesicht seiner Mutter und die Angst, dass ihm der Arm vom Körper faulen könnte. Dabei war eine ganz andere Vorstellung für ihn noch viel grässlicher gewesen: die, dass sich der Albtraum eines Tages wiederholen würde, dass er eines Tages wieder einer durch und durch bösartigen Ratte begegnen würde.
Nie wieder, hatte er sich als Heranwachsender geschworen, würde er bei einer solchen Begegnung der Unterlegene sein. Er hatte sich rotz seiner Abscheu gründlich über die Ratte, seinen Todfeind, informiert. Er wusste von den dreihundert Millionen Ratten, die Deutschlands Untergrund bevölkerten, von den schlimmen Krankheiten, die sie verbreiteten – und das nicht nur über direkte Bisse –, und von den Verwüstungen, die sie anrichteten, wenn sie über die Kanalisation oder andere, leichtfertig vom Menschen offen gelassene Schlupflöcher in Häuser und Wohnungen eindrangen. Aber er kannte auch den Weltrekord eines Terriers, der im Jahr achtzehnhunderteinundsechzig innerhalb von einer Minute fünfundzwanzig Ratten totgebissen hatte.
Ratten waren besiegbar, nicht nur von einem Terrier, sondern auch von einem Erwachsenen.
Aber nicht von einem Erwachsenen, der vor einer Ratte im Dreck lag, der erschöpft und zerschlagen war und voller Angst, die nächste Kugel eines unbekannten Schützen könnte ihn erwischen, und der sich so klein und schwach fühlte wie ein Kind – ein Kind, das den Glauben an die Unbesiegbarkeit von Spielzeugsoldaten verloren hatte.
Die Ratte musterte ihn und grinste.
Natürlich grinste sie nicht wirklich. Ratten mochten ausgesprochen intelligent und in vielen Dingen dem Menschen ähnlich sein – nicht nur bei dem, was sie zu sich nahmen, sondern auch in der Art, wie sie sich zu Gruppen zusammenschlossen und gemeinschaftlich große Aufgaben angingen. Aber es gab keine lachenden oder grinsenden Ratten.
Abgesehen von dem Exemplar, das ihm gegenüberhockte.
Die Ratte grinste noch breiter, stieß sich ab und kam auf ihn zu. Ihre Bewegungen waren nicht wie für ihre Art typisch lang gestreckt und flink, sondern eine Mischung aus Schwimmen und Trippeln.
»Verdammte Scheiße!«, schrie jemand hinter ihm.
Rastalocke.
Wieder knallte es, aber diesmal anders, zugleich härter und kürzer als zuvor. Die Ratte zuckte zusammen, bäumte sich auf, machte eine lächerliche Seitwärtsbewegung. Dirk wollte erleichtert ausatmen – jemand hatte die Gefahr erkannt, in der er sich befand, und das grässliche Vieh erschossen. Doch dann erkannte er seinen Irrtum. Die Ratte hatte sich lediglich erschreckt. Nun starrte sie ihn wieder an. Das, was er eben noch für ein Grinsen gehalten hatte, war aus ihrem Gesicht verschwunden. Dafür war dort jetzt etwas anderes. Etwas durch und durch Böses.
Die Ratte lief wieder los, schneller diesmal, getrieben von einem Hass, der wie ein tödliches Versprechen in ihren Augen brannte. In Dirk verkrampfte sich alles. Liegen bleiben, dachte er, ich muss nur liegen bleiben.
Die Ratte schien das für eine gute Idee zu halten. Sie wurde nicht langsamer, sie änderte ihre Richtung nicht,
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