Sturm: Roman (German Edition)
flattern ließ und drohte, ihn von den Beinen zu fegen. Er versuchte keuchend, sich an dem Felsen festzuhalten und die Füße in den Boden zu stemmen. Doch das Ziehen und Zerren wurde übermächtig. Er stand schräg und hatte beide Hände in die Felswand gekrallt, aber er bot den Böen immer noch viel zu viel Angriffsfläche. Es war, als würden unsichtbare Fäuste auf ihn eintrommeln, um ihn wegzuschlagen und in den Dreck zu stoßen. Mit einer verzweifelten Anstrengung presste er sein Gesicht und seinen Oberkörper an den Stein.
Keinen Augenblick zu früh. Das, was jetzt heranraste, war keine Bö mehr, es war der wütend ausgestoßene Atem eines archaischen Gottes, der seinem Zorn mit ungestümer, tödlicher Wucht freien Lauf ließ. Dirk wurde wie von einem gigantischen Vorschlaghammer getroffen, zusammengestaucht und dann nach oben gedrückt. Er schrammte über den rauen Felsen. Seine Hände und Finger versuchten, Halt zu finden, wo immer es ging, schürften auf, krallten sich ein, wurden wieder losgerissen, sein Kopf schlug mehrfach an Vorsprüngen an. Um ihn herum tobten Urgewalten, schleuderten ihn mit der Wucht eines Tornados gegen die Felsen, nur um dann nachzulassen, ihm den Halt zu rauben, sodass er ein kleines oder ein größeres Stück abrutschte, bis sie ihn erneut festhämmerten, ihm die Luft aus den Lungen saugten und ihn immer und immer wieder nach oben rissen, weg von den anderen, weg von der Normalität, weg von allem, was sein Leben bislang ausgemacht hatte.
Es schien ewig zu dauern. Sein Verstand nahm die Umgebung nur noch als vereinzelte Wirklichkeitsfetzen wahr, schrecklich und voller Qual und Schmerz.
Ein neuer gewaltiger Schlag traf ihn, schleuderte ihn von der Wand weg und ließ ihn über grauen Felsen stürzen. Er prallte mit dem Kopf gegen etwas, einen Grat oder einen Vorsprung, irgendetwas, das plötzlich im Weg war. Diesmal setzte sein Verstand nicht nur für einen Augenblick aus, sondern erlosch vollständig und wich tiefer Schwärze.
Als Dirk wieder zu sich kam, hörte er ganz in der Nähe ein Keuchen und Prasseln, als würden sich kleine Steinchen aus dem Felsen lösen und hinunterpurzeln, während jemand zu ihm heraufkletterte. In seinem Kopf war nichts als dumpfe Benommenheit und ein stechender Schmerz, ähnlich und doch ganz anders als bei der einen oder anderen Gelegenheit, wenn er am Vorabend zu tief ins Glas geschaut hatte. Er erinnerte sich nur noch vage an das, was gerade passiert war, an die wilden Gestalten, die ihn hatten angreifen wollen, an die dunklen Körper und weißen Gesichter, an den Sturm, der plötzlich in der Grotte getobt hatte. Er versuchte sich aufzurichten. Es ging so gut oder schlecht wie an einem der vielen Vormittage, an denen er sich mit dickem Kopf und einem schlechten Geschmack im Mund aus dem Bett wälzte, weil der Postbote geklingelt hatte und sofort wieder verschwinden würde, wenn er sich nicht beeilte.
Die Geräusche klangen in ihrer gleichzeitigen Fremdheit und Vertrautheit bedrohlich. Er versuchte, den Kopf zu drehen. Der führte die Bewegung auch aus, doch seine Augen schienen nicht in der Lage zu sein, ihm zu folgen. Einen Moment lang sah er nur Schlieren, farbige Sprenkel und vage Umrisse, die alles Mögliche sein konnten – kleine, dunkelhäutige Krieger mit dem ältesten Kriegsgerät der Welt, mit Steinwaffen und Holzknüppeln, die auf geringe Distanz ihre todbringende Wirkung kaum weniger zuverlässig entfalten würden als moderne Nahkampfwaffen, oder auch Ratten, die überallhin gelangten, sei es in steil nach oben verlaufenden Abflussrohren oder auf fast senkrechten Felswänden.
Er kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, etwas, das in der Vergangenheit schon mehrfach geholfen hatte, wenn er sich verzweifelt bemüht hatte, seiner Umgebung Form und Farbe abzugewinnen. Doch diesmal war es nicht irgendein billiger Fusel, der ihm das Gehirn vernebelte, diesmal waren es die Folgen eines schweren Sturzes, die ihm das Bewusstsein geraubt und irgendetwas in seinem Kopf durcheinandergebracht hatten. Die Schlieren waren inzwischen zwar fast verschwunden, dafür drehten sich jedoch bunte, in allen Farben schillernde Kreise vor seinen Augen, die so schnell wirbelten, dass ihm übel wurde.
Mühsam stemmte er sich hoch. Er wollte weg von den Geräuschen, die immer näher kamen, weg von der Gefahr, die sich um ihn herum zusammenzog wie eine Gewitterwolke. Mit vorgestreckten Händen torkelte er los, hinein in die Dunkelheit, die ihn umfing
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