Sturm: Roman (German Edition)
ihm fehlte die Geduld, um darauf einzugehen.
»Und das war in München?«
»In der Nähe«, antwortete Lubaya. »In einem kleinen Ort, an dem sich viele Gleichgesinnte versammelt hatten. Menschen, die auch in der Fremde den Kontakt zu ihrer Heimat und ihren Ahnen pflegten.«
Auch damit wollte sich Dirk nicht näher befassen. »Und in den letzten drei Jahren …«, begann er stattdessen.
»… haben Kinah und ich uns häufig hier getroffen«, beendete Lubaya seinen Satz. »Ich habe sie über die Entwicklung in Deutschland auf dem Laufenden gehalten.«
»Und ihr berichtet, wie ihre kleine Familie in München langsam vor die Hunde geht«, stellte Dirk bitter fest.
Lubaya funkelte ihn ärgerlich an. »So ein Blödsinn. Allerdings habe ich ihr berichtet, dass ihre Tochter …«
» … unsere Tochter …«
»… verschwunden ist. Und dann habe ich mich gleich an Birdie rangeklemmt.«
Dirk brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen. »Bedeutet das etwa, dass du Biermann auf die marokkanische Fährte gesetzt hast?«
»Nicht direkt«, brummte Lubaya. »Ich bin doch nicht dämlich. Nein, Kinah und ich wollten einfach nur wissen, wo Akuyi steckt.«
»In Situationen wie diesen ist es eigentlich sogar unter zerstrittenen Ex-Ehepartnern üblich, an einem Strang zu ziehen«, murrte Dirk. »Kinah hätte doch wenigstens zum Telefonhörer greifen und mich anrufen können.«
»Und damit alles gefährden?«, wandte Lubaya ein.
»Alles gefährden?« Dirk wäre am liebsten in spöttisches Gelächter ausgebrochen, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. »Was kann denn noch gefährdet werden, wenn das Schlimmste schon passiert und die eigene Tochter spurlos verschwunden ist?«
»Du kapierst die Zusammenhänge einfach nicht«, sagte Lubaya. »Aber abgesehen davon« – sie rutschte vom Hocker, bückte sich und klaubte etwas vom Boden auf – »wird es Zeit, dass ich mich um deine Wunde kümmere. Mit der ist nicht zu spaßen.« Sie hielt den Tiegel mit der stinkenden Flüssigkeit hoch, die sie zusammengerührt hatte, während Dirk erst gierig einen Becher abgestandenes, aber trotzdem köstlich erfrischendes Wasser getrunken und danach einfach nur erschöpft an der Wand gelehnt hatte.
Dirk drehte angewidert den Kopf weg und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was Lubaya mit ihm vorhatte – und starrte in das neugierige Gesicht des Langhaarigen, der ihren kleinen Schlagabtausch aufmerksam verfolgt hatte. »Was ist mit Ihnen?«, fragte er ihn ungeduldig. »Haben Sie Akuyi nicht doch irgendwo hier gesehen? Ein sechzehnjähriges Mädchen, das seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«
Kinahs angeblicher Freund kniff die Augen zusammen. Dann schüttelte er wortlos den Kopf.
»Vielleicht wollten Kinah und Lubaya Akuyi zu sich holen«, fuhr Dirk heiser fort. »Könnte doch sein, oder?«
»So ein Quatsch«, knurrte der Mann abweisend. »Wie sollte sie denn hierher gekommen sein?«
»Nachdem man sie entführt hat, meinen Sie?«, fragte Dirk bitter.
»Es steht doch gar nicht fest, ob es eine Entführung war«, wandte sein Gegenüber ein. »Und davon, dass Akuyi hier sein soll, weiß ich nichts.«
»Aber sie ist hier. Ich habe sie gesehen …« Dirk verstummte. Genau das war der entscheidende Punkt. Er hatte Akuyi hier unten gesehen.
Das konnte er sich unmöglich nur eingebildet haben, genauso wenig wie die Begegnung mit Kinah, für die er bisher noch nicht die geringste Erklärung gefunden hatte.
Oder doch? Was, wenn er nach dem Rattenbiss halluziniert hatte, ausgelöst durch ein Gift, das ihn jetzt durchpulste und umbringen würde, wenn ihm Lubaya nicht half?
Schließlich waren es nicht nur die beiden Frauen gewesen, die er zu sehen geglaubt hatte, sondern auch ein alter Mann, der ihren Tod und den Untergang der Welt prophezeit hatte; und dieses Erlebnis hatte ihn in ein weites Land voller raschelnder, zischender und sirrender Laute geführt, das er aus einem Traum kannte und das sicherlich auch nur im Traum existierte …
Alles sprach dafür, dass das, was er zu erleben geglaubt hatte, nichts weiter als ein Trugbild gewesen war, beeinflusst von der aufgeputschten Sehnsucht seines Unterbewussteins.
Aber hatte er Akuyi nicht gesehen, bevor die Ratte ihn angefallen hatte?
Das Schlimme war: Er wusste es nicht mehr.
Für einen Moment klammerte sich Dirk mit aller Kraft an den Gedanken, dass er sich nicht getäuscht haben konnte, dass es tatsächliche Begegnungen gewesen waren und nicht nur Wunschvorstellungen,
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