Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
war.
    Und diese Verwandlung war erstaunlich. Dirk hatte geglaubt, dass der Typ in dem ausgeblichenen Holzfällerhemd nichts Besseres zu tun hatte, als sich mit Alkohol und Marihuana die Birne zuzuknallen und auf der Suche nach der nächsten Party, dem nächsten Kick durchs Leben zu taumeln, ohne zu merken, dass es gerade dadurch an ihm vorbeirauschte. Schon Dirks Meinung über Rastalocke war nicht die allerbeste, aber der Mann mit den ungepflegten langen Haaren war ihm noch wesentlich einfacher strukturiert vorgekommen. Er hatte ihn für einen tumben Narren gehalten, dem in einer Extremsituation nichts anderes einfiel, als sich angetrunken auf leeren Bierkästen zu fläzen oder mit einer Schrotflinte herumzufuchteln.
    Die Lesebrille auf der Nase des Langhaarigen zerstörte dieses Bild, genauso der mit Schriftstücken überladene Tisch. Aber das war es nicht allein. Es war der Gesichtsausdruck. Bislang war er einfältig und grob gewesen – zumindest in Dirks Augen –, doch jetzt wirkte er völlig anders. Die gerunzelte Stirn, der wache Blick, die Nachdenklichkeit … All dies machte aus dem Langhaarigen plötzlich einen Mann, dem Dirk durchaus eine Professur an einer großen deutschen Universität zugetraut hätte und nicht länger einen Stammplatz unter der nächstbesten Brücke.
    »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, hier in Rambomanier aufzutauchen?«, fuhr der Verwandelte fort und steckte den Kamm weg, mit dem er vergeblich versucht hatte, seine durch den Sturm zerzauste Mähne zu bändigen. »Haben Sie nicht eine Sekunde lang daran gedacht, dass Sie damit Ihre Frau in Gefahr bringen könnten?«
    »Meine Frau?« Dirk wollte sich an der Wand aufrichten, gegen die er mit dem Oberkörper lehnte, aber es gelang ihm nicht. Er war viel zu erschöpft, um seine Muskeln und Sehnen dazu zu bringen, ihm zu gehorchen, nun, da er ihnen eine Ruhepause gegönnt hatte. Lubaya, die direkt neben ihm eine stinkende Tinktur anrührte, mit der sie seine Wunde versorgen wollte, streckte schon die Hand aus – vielleicht, um ihm zu helfen, vielleicht aber auch, um ihn am Aufstehen zu hindern – und ließ sie dann zögernd wieder sinken, weil Dirk keine Anstalten machte, seinen Versuch ernsthaft fortzusetzen.
    Dirk bekam Lubayas Geste nur am Rande mit. Sein Blick haftete an dem Mann, der knapp zwei Meter von ihm entfernt auf dem Stuhl saß und ihn so taxierend beobachtete wie ein Insektenforscher seinen neuesten, in einem Glasgefängnis umherkrabbelnden Fund.
    »Was ist mit meiner Frau?«, fuhr ihn Dirk an. »Was wissen Sie über Kinah? Wissen Sie, wie es ihr geht? Was ist mit ihrer Verletzung? Und wo ist meine Tochter?« Er feuerte eine Frage nach der anderen ab, ohne seinem Gegenüber die geringste Chance zu geben, ihm zu antworten. »Wo ist Akuyi?«
    »Von Akuyi habe ich keine Ahnung.« Als Dirk aufbegehren wollte, wehrte der Mann, der ihn anstarrte wie ein Forschungsobjekt, mit einer raschen Handbewegung ab. »Ich weiß natürlich, wer sie ist. Kinah hat sehr viel von ihr erzählt. Und davon, wie schwer es ihr gefallen ist, Sie beide zurückzulassen …«
    Er verstummte. Offensichtlich hatte er das Funkeln in Dirks Augen gesehen und erkannt, dass er ein gefährliches Thema angeschnitten hatte.
    »Akuyi ist hier unten«, sagte Dirk. »Und Kinah ist … verletzt. Mit ihrem Gesicht stimmt irgendetwas nicht.« Er sagte es im Tonfall einer Feststellung, aber in Wirklichkeit war es eine Frage. Eine verzweifelte Frage, mit der er zugleich verschwieg, dass er nicht nur Kinah und Akuyi zu sehen geglaubt hatte, sondern auch einen alten Mann, einen Schamanen, der ihm von Dingen erzählt hatte, die zu begreifen er nicht in der Lage gewesen war, sodass er seitdem an seinem Verstand zweifelte.
    Der Langhaarige wirkte ehrlich überrascht. »Von einer Verletzung Ihrer Frau weiß ich nichts. Und ich mache mir im Augenblick auch keine großen Sorgen um sie. Sie hat gewusst, was auf uns zukommt, und wird sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben.«
    »Sie ist nicht verletzt?«, fragte Dirk nach und dachte mit hämmerndem Herzen daran, wie Kinah vor ihm gestanden hatte, Engel und Teufel zugleich, so wunderschön, dass er sich nach ihr verzehrt hätte, hätte er lediglich ihre unverletzte Gesichtshälfte vor Augen gehabt, und so abstoßend, dass er vor ihr zurückgeschreckt wäre, hätte er nur die schwärende Wunde auf ihrer anderen Hälfte gesehen.
    Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
    »Mit ihrem Gesicht ist nichts

Weitere Kostenlose Bücher