Sturm: Roman (German Edition)
Lubaya schüttelte sich. So viel zu ihrer Behauptung, das Wasser sei angenehm. »Aber wenn wir nicht nachschauen, werden wir es nie erfahren, stimmt's?«
»Wenn ich das richtig gesehen habe, hat die Kamera hinter Kinah aber keine Wand, sondern nackten Felsen gezeigt«, wandte Dirk ein.
»Ja und? Das ist doch schon eine ganze Weile her, oder?«
Das war zweifelsohne richtig. Trotzdem zögerte Dirk – bis er ein Geräusch hörte.
Besser gesagt: einen Schrei.
Einen Schrei, der aus der Richtung der Felsenbühne kam.
Es war der Schrei einer Frau.
Einer ganz bestimmten Frau.
Kapitel 17
Unter normalen Umständen wäre Dirk niemals auf die Idee gekommen, durch einen eiskalten Grottensee zu kraulen, auf dessen Grund wahrscheinlich alles Mögliche lag, an dem man sich die Beine aufschlagen oder den Bauch aufschlitzen konnte. Aber die Umstände waren nicht normal. Er hatte Kinah schreien gehört, und ihr entsetzter Schrei fegte selbst nach drei Jahren und trotz allem, was geschehen war, von einer Sekunde auf die andere sämtliche Bedenken beiseite und ließ ihn losstürzen.
Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Anlauf genommen und wäre mit einem Kopfsprung ins Wasser gehechtet.
Kinahs Schrei war ein erschütterter Ausruf gefolgt, dann hatte sich Schweigen über die Grotte gesenkt, und diese Stille war für Dirk erst recht unerträglich.
Er war versucht gewesen, ihr mit sich überschlagender Stimme zu antworten, »Kinah – bist du es?« zu brüllen und dann: »Warte, ich komme und helfe dir!« Aber er hatte es nicht getan. Es hätte einfach zu profan und dämlich geklungen.
Außerdem hätte er damit unnötig Zeit verschwendet.
Als er an der völlig verblüfften Lubaya vorbeikraulte, immer wieder mit dem Kopf in das seltsam ölige Wasser tauchend und mehrmals mit den Füßen oder Knien schmerzhaft am Boden anstoßend, kam ihm ein Gedanke, der ihn seine verrückte Schwimmaktion beinahe abbrechen ließ.
Was, wenn er sich den Schrei nur eingebildet hatte? Oder wenn jemand anders geschrien und er Kinahs Stimme nur deshalb gehört hatte, weil er sie hören wollte?
Der Gedanke wäre es sicherlich wert gewesen, bei einem Glas Whiskey von der einen Seite zu anderen gewendet zu werden. In der augenblicklichen Situation interessierte sich Dirk jedoch nur dafür, wie schnell er den Felsabsatz erreichen konnte, auf dem der ganze Krempel stand.
Schließlich passierte genau das, was er befürchtet hatte. Er war ein passabler Schwimmer, aber alles andere als ein erfahrener Krauler. Dennoch schoss er mit einer Geschwindigkeit durch das Wasser, die er nur einem Schlauchboot mit Außenborder zugetraut hätte.
Und so, wie die Schraube eines Außenbordmotors irgendwann gegen Felsen geschlagen wäre, schlugen schließlich auch Dirks Knie auf. Seine Schwimmbewegungen gerieten durcheinander. Mit einem Röcheln ging er vom Kraulen zum Brustschwimmen über.
Aber es war schon zu spät. Er lief auf Grund. Einen bizarren Moment lang bewegten sich seine Arme trotzig weiter, obwohl er keinen Zentimeter mehr vorankam. Erst dann stemmte er sich hoch, mühsam und unter Schmerzen.
Der Felsabsatz war nur noch ein paar Schritte entfernt. Er ragte mindestens einen Meter aus dem Wasser – eine natürliche oder von Menschenhand geschaffene Plattform, auf der einige Objekte standen, die Dirk merkwürdig vertraut vorkamen. Es waren Statuen darunter, wie er sie bei sich zu Hause in die Garage verbannt hatte, mit ausgebreiteten Armen und Gesichtern, die aussahen, als hätte sich eine afrikanische Maske in das Gesicht eines Mannes oder einer Frau gebrannt und wäre mit ihm zu etwas vollkommen Neuem verschmolzen. Dirk hatte den Anblick dieser Schreckensfratzen, wie er sie insgeheim nannte, noch nie ertragen, und nun betrachtete er sie mehr denn je als stumme Wächter, deren starre Körper jederzeit zum Leben erwachen konnten, um sich auf ihn zu stürzen.
Niemand außer Kinah gestaltete diese Art von Skulpturen. Sie hatte sie manchmal halb scherzhaft, halb im Ernst als ihre Kinder bezeichnet und war sehr stolz auf sie gewesen.
Dirk unterdrückte einen Schrei und taumelte vorwärts. Neben Kinahs Skulpturen gab es auch andere Gegenstände, die an sie erinnerten: afrikanisches Schnitzwerk und Bottiche wie die, in denen sie das Material angerührt hatte, aus dem sie ihre Kinder formte. Doch er entdeckte auch ihm völlig fremde Dinge: verwachsen wirkende Skulpturen, halb Mensch, halb Baumstumpf, die die Hände gen Himmel streckten, und kleinere
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