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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Objekte, die wie gegossen aussahen und für Dirk in ihrer Fremdartigkeit gar keinen Sinn ergaben.
    Er blieb direkt vor dem Absatz stehen und stieß keuchend die Luft aus. Seine Knie schmerzten, seine rechte Hand pochte im selben Rhythmus wie sein sich fast überschlagendes Herz, und sein Schädel schien in einen Schraubstock gespannt zu sein, der kontinuierlich fester gezogen wurde.
    »Kinah!«, schrie er aus Leibeskräften.
    Nichts. Doch dann glaubte er, ein Rascheln zu hören, vielleicht auch Schritte.
    »Kinah?!?«
    Es war eher eine bange Frage als ein Ausruf. Dirk wusste, was er hier gefunden hatte: eine Art geheime Künstlerwerkstatt im Herzen eines Felsenlabyrinths. Kinahs geheime Werkstatt. Möglich, dass auch andere Menschen diese Grotte betreten hatten, Menschen wie sie, die eine Art von Kunst schufen, die aus der Tiefe der Seele entsprang, dort, wo sich die größten Ängste und Phobien verbargen. Vielleicht hatte Kinah aber auch all das hier allein erschaffen.
    Dirk hatte nicht die Kraft, sich an dem Felsen hochzuziehen. Der kurze Schwimmspurt war fast zu viel für ihn gewesen. Es war ein Wunder, dass sein rechter Arm überhaupt mitgemacht hatte, und dieses Wunder verdankte er mit Sicherheit Lubaya. Doch jetzt hing der Arm wieder schmerzend und nutzlos an ihm herab.
    »Dirk.«
    Das war Kinahs Stimme. Ein kalter Schauer überlief ihn. Sein Blick irrte suchend zwischen den Kunstwerken umher. Aber da war niemand.
    »Dirk!«
    Diesmal klang es näher. Wasser platschte.
    Dirk drehte sich um.
    Da stand sie.
    Kinah.
    Nur vier oder fünf Schritte von ihm entfernt. Ihr Gesicht war schmal geworden, die nassen Haare hingen ihr wirr in die Stirn, ihre Augen waren weit aufgerissen und auf ihrer rechten Wange prangte ein frischer Kratzer. Sie sah vollkommen anders aus als noch vor wenigen Stunden, als er sie zu sehen geglaubt hatte, und doch wieder nicht. Der wichtigste Unterschied lag in ihren Augen. Es brannte ein Feuer darin, und ein Verlangen, und Liebe.
    Ihr Gesicht verzog sich und glich für den Bruchteil einer Sekunde einer ihrer Schreckensmasken, doch dann war da nur noch Freude, eine unglaubliche Freude.
    Dirks Herz krampfte sich zusammen, teils aus Glück, teils aus Angst.
    Was, wenn sie nur ein Trugbild war?
    Aber Kinah verhielt sich ganz und gar nicht wie ein Trugbild. Sie lief auf ihn zu. Ihre Füße platschten durch das Wasser. Ihre Arme streckten sich ihm entgegen.
    »Kinah«, murmelte er.
    Sie war so ungestüm wie in alten Zeiten und warf ihn beinahe um. Er taumelte einen halben Schritt rückwärts, bevor er sich fing. Sie umklammerte ihn. Er hielt sie in den Armen, er roch ihre feuchten Haare, er spürte ihren Herzschlag und das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte.
    »Oh Dirk«, murmelte sie. »Warum bist du nicht früher gekommen?«
    ***
    Wenn Leid und Freude derart schnell aufeinanderfolgen, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden sind, setzt der Verstand aus, und was übrig bleibt, sind Verwirrung, Sehnsucht und das Bedürfnis, Dinge zu verstehen, die vielleicht gar nicht zu verstehen sind.
    Genauso erging es Dirk, und er war sich dessen bewusst, weil er es schon einmal erlebt hatte, wenn auch nicht auf derart drastische Weise. Kinah klammerte sich an ihn wie ein schutzbedürftiges kleines Kind, und es war das reine, pure Glück, sie so halten und trösten zu können.
    Aber dieses Glück währte lediglich ein paar Atemzüge.
    Dann löste sich Kinah von ihm und schob ihn mit sanfter Gewalt von sich. »Es ist so schrecklich.«
    »Ja«, murmelte Dirk, ohne das erleichterte Lächeln ablegen zu können, das aus der Tiefe seiner Seele aufstieg. »Aber jetzt haben wir uns wieder.«
    »Ja. Vielleicht haben wir uns wieder. Wir werden sehen.« Sie atmete tief aus. Mit fast schmerzhafter Deutlichkeit sah Dirk in diesem Moment die dunklen Ringe unter ihren Augen, ihre Wangenknochen, die viel spitzer hervorstachen, als sie eigentlich sollten, und den Kratzer auf ihrer Wange, der wirkte, als hätte sie jemand mit einem Reißnagel verletzt. Ihre Schönheit wurde durch all dies nicht im Geringsten beeinträchtigt, sondern eher noch verstärkt, und rührte ihn an wie bei ihrer ersten Begegnung. »Es ist einfach furchtbar.«
    »Ja, ich weiß.« Er streckte die Hand aus, um Kinah zu berühren, ließ sie aber sinken, als er sah, wie sich ihr Blick veränderte. »Der Sturm …«
    Kinah starrte ihn an, als begriffe sie nicht, wovon er redete. »Ja, das auch«, murmelte sie dann. »Natürlich. Der Sturm. Der

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