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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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rissig und wies Löcher auf, als hätte man sie mit einer Spitzhacke bearbeitet, bis sie schließlich als Trümmerhaufen endete. Hunderte, wenn nicht tausende von Ziegeln lagen im Wasser, das die Unterseite der Mauer umspülte.
    Das, was Dirk an diesem Anblick bekannt vorkam, war nicht die halb zerstörte Mauer, die hinter einem Schleier aus von der Decke herabfallenden feinen Wassertröpfchen lag, sondern etwas, das er am Abend zuvor auf einer Skizze aus einer ganz anderen Perspektive gesehen hatte: eine Art Bühne, die sich nun als natürlicher Felsabsatz herausstellte. Die Mauer reichte bis an diesen Absatz heran und spannte sich in einem Bogen darüber, um danach irgendwo im grauen Halbdunkel zu verschwimmen
    Dirk blieb abrupt stehen und starrte auf die Bühne. Das Krachen und Beben hinter ihm war verstummt. Außer seinem eigenen, rasselnden Atem war nur zu hören, wie Wassertropfen in den kleinen See platschten, der sich auf dem Grottenboden gebildet hatte, und wie Lubaya mit schweren Schritten über die Stufen einer vor ewigen Zeiten in den Felsen gehauenen Treppe nach unten stampfte.
    Dirk bekam eine Gänsehaut, was jedoch nicht an der frischen Luft lag, die durch die Grotte strömte und die seit langem der erste Windhauch war, der nichts mit herabstürzendem Gestein zu tun hatte. Dirk war nicht sicher, ob dies wirklich die Höhle war, die an den Keller von Olowskis Bungalow grenzte, aber er wusste, dass dort auf dem Felsabsatz nicht Musikinstrumente und das dazugehörige Equipment standen, wie er auf der Zeichnung zu erkennen geglaubt hatte, sondern etwas vollkommen anderes.
    Was genau, vermochte er allerdings nicht zu sagen. Es wirkte wie das Bühnenbild eines modernen Theaterstücks, bei dem alltägliche und skurrile Requisiten miteinander kombiniert worden waren, deren Gesamtsinn zu begreifen ein abgeschlossenes Studium an einer progressiven Kunstakademie vorausgesetzt hätte. Ein hohes Holzgestell hatte etwas von einem Galgen, eine Skulptur sah aus wie ein Leihstück aus dem Ägyptischen Museum in Berlin, einige gedrungene Gegenstände hätten alles sein können – angefangen von einer Couchgarnitur aus den fünfziger Jahren über eine zusammengeschmolzene Büroeinrichtung bis hin zu einem Kunstwerk, dessen Bedeutung Dirk wohl auch dann nicht verstanden hätte, wenn der Künstler höchstpersönlich sie ihm in gedrechselten Sätzen zu erklären versucht hätte.
    Ganz davon abgesehen, dass der feine Nieselregen, der auf mysteriöse Weise durch die steinerne Decke drang, seine Sicht auf die Bühnendekoration einschränkte.
    Als sich Dirk entschied, der Sache auf den Grund zu gehen, hatte Lubaya bereits die letzte Treppenstufe erreicht. Sie streckte vorsichtig einen Fuß aus und tauchte ihn ins Wasser, bis er vollkommen verschwand und offenbar auf festen Boden stieß. Langsam ließ sie den anderen Fuß folgen und ging weiter – wie es schien, auch hier über Stufen, sodass sie schnell immer tiefer sank. Ihr Gewand blähte sich und wurde vom Wasser nach oben gedrückt, bis es sie umhüllte wie ein Fallschirm, der über ein badendes Flusspferd gefallen war.
    Plötzlich spürte Dirk auf eine Art, die er sich nicht im Geringsten erklären konnte, die er aber von früher kannte, von Erlebnissen, die er romantisch genannt hätte, die Anwesenheit von Kinah. Sie war hier irgendwo. Er musste sie finden.
    Lubaya ging ohne zu zögern weiter, und Dirk fürchtete schon, das Wasser würde im nächsten Moment über ihr zusammenschlagen und nichts von ihr übrig lassen als ihr Gewand, das wie eine riesige, bunte Seerose an der Oberfläche trieb.
    Doch dann hatte sie offensichtlich das Ende der Treppe erreicht, und der Boden unter ihr stieg an, denn bei den nächsten Schritten senkte sich ihr Gewand, und sie tauchte bis zum Bauch wieder auf. Sie drehte sich um und winkte ihm zu. »Ein bisschen kalt, aber sonst ganz angenehm. Und nun komm schon!«
    Ihre Miene verriet, dass es nicht nur ein bisschen kalt war, denn ihr Lächeln wirkte im wahrsten Sinne des Wortes wie eingefroren.
    »Bist du überhaupt sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«, fragte Dirk.
    Lubaya nickte bedächtig. »Ja, Massa. Richtiger Weg. Massa mir einfach folgen, dann wird alles wieder gut.«
    Dirk verzog das Gesicht. Das fehlte ihm noch, dass Lubaya ausgerechnet jetzt ihren schrägen Sinn für Humor wiederentdeckte.
    »Und Kinah …«
    »Hat vielleicht im Bungalowkeller Schutz gesucht, der hier auf der anderen Seite liegt – oder auch nicht.«

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