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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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hinaufkämpften. Manche rissen an den Zügeln ihrer Ochsen, andere stemmten sich gegen Karren, deren Räder im Schlamm versunken waren. Die Farben ihrer Gewänder waren dem Schlamm gewichen, die bunten Fahnen, auf denen sie ihr Können anpriesen, hingen schlaff und nass herab. Der Nebel, der aus dem Tal aufstieg, zog Rot, Gelb, Grün aus ihren Stoffen und ließ nur Grau zurück. Es war Frühling in Somerstorm.
    »Komm vom Fenster weg, bevor die Götter dich sehen.« Zrenje hatte das Zimmer betreten, ohne anzuklopfen, so wie es ihre Art war. Ana drehte sich nicht um zu ihr, sondern blickte weiter durch den schmalen Spalt nach draußen. Fast einen Meter dick waren die Steine, aus denen die Fürsten Somerstorms vor Jahrhunderten ihre Festung erbaut hatten. Die Spalte darin waren so schmal, dass ein erwachsener Mensch kaum den Kopf hindurchstecken konnte. Ana hatte einen Schemel unter das Fenster ihres Turmzimmers geschoben und stand jetzt auf Zehenspitzen darauf, die Ellenbogen auf den kalten Stein gestützt.
    »Komm da weg. Fordere dein Schicksal nicht heraus. Nicht an diesem Tag.«
    »Es ist mein Geburtstag, Zrenje, das ist doch nichts Schlimmes.« Ana sah ihre Zofe an. »In Westfall feiert man jedes Jahr Geburtstag.«
    »Aber nicht hier.« Zrenje stemmte die Arme in die Hüften. Sie war eine kräftige Frau mit rauer Haut und heruntergezogenen Mundwinkeln. Ihre Haare waren grau. Sie trug sie zusammengesteckt unter einem Kopftuch. »Das weißt du doch.«
    »Ja, ich weiß.«
    Geburtstage waren Geheimnisse in Somerstorm. Während man in anderen Fürstentümern feierte, verkroch man sich hier an einem dunklen Ort und hoffte, dass die Götter nicht bemerkten, dass man dem Tod ein weiteres Jahr entgangen war. Ana lebte mit diesem Aberglauben seit ihrem vierten Lebensjahr, ihr jüngerer Bruder Gerit sein ganzes Leben lang.
    Sie wandte sich von den Ochsenkarren ab und von den Flüchen, die der Wind nach oben trug. »Aber eure Götter sind nicht unsere Götter. Sie können von uns nicht die gleiche Ehrerbietung erwarten wie von ihrem eigenen Volk. Ich bin sicher, dass sie uns diesen einen Tag verzeihen werden.«
    Das waren die gleichen Sätze, die ihr Vater, Fürst Lennard, sagte, wenn ihn ein Diener vor dem bevorstehenden Fest warnte, doch erst jetzt, wo Ana sie selbst aussprach, fiel ihr auf, wie leer und naiv sie klangen. Die Götter Somerstorms vergaben nicht.
    Zrenje sah sie an. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Besorgnis und Enttäuschung. Sie schien etwas sagen zu wollen, wandte sich dann jedoch wortlos ab und ging zu dem gewaltigen sechstürigen Kleiderschrank, der die gesamte linke Wand von Anas Zimmer einnahm. Ein Kleid hing außen an einer der Türen. Es war in dunkles Tuch eingehüllt. Ein Diener hatte es an diesem Morgen dort hingehängt.
    »Das Glück bleibt Euch treu, Mefrouw«, hatte er gesagt. »Der Fürst befürchtete bereits, es würde nicht mehr rechtzeitig zur Feier eintreffen.«
    Aber es war eingetroffen, so wie es der Händler aus Bochat versprochen hatte. Im Herbst hatte er die Festung besucht und Anas Maße genommen. Zwei Kleider sollte er anfertigen, eines für ihren Geburtstag, ein zweites für ihre Hochzeit. Er hatte sie nicht nach ihren Wünschen oder Vorlieben gefragt, sie nur gebeten, ihm eine Strähne ihres Haars zu überlassen. Von Anas Mutter hatte er erfahren, welches Wetter am Tag ihrer Geburt geherrscht hatte. Mehr, so hatte er erklärt, würden die Schneider nicht benötigen, um das passende Gewand für sie zu nähen. Seitdem hatte Ana gewusst, wohin der Händler seine Informationen bringen würde, denn eine solche Arroganz fand man den Erzählungen nach nur an einem einzigen Ort.
    »Die Feier wird bald beginnen«, sagte Zrenje. »Ich nehme an, du willst das Kleid tragen, das dein Vater hat anfertigen lassen?«
    Ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass Ana sich ihrer Meinung nach besser in einen Jutesack gehüllt hätte.
    »Natürlich.« Den ganzen Morgen hatte sie der Versuchung widerstanden, unter das Tuch zu blicken. Ein besonderer Augenblick hatte es werden sollen, und den sollte Zrenje nicht ruinieren.
    »Wie du möchtest.« Die Zofe nahm das Kleid vom Bügel und legte es auf den Ankleidetisch neben dem Schrank. Das Tuch wurde von Metallklammern zusammengehalten. Zrenje begann sie mit ihren breiten Fingern aufzubiegen.
    »Nein«, sagte Ana. »Lass mich das machen.«
    Sie trat neben ihre Zofe und klappte die erste Metallklammer auf, dann die zweite und dritte. Das Tuch lag

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