Sturmauge
hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte.
Er sah Hohepriester Antil nach, der die seltsame blinde Frau am Arm die Straße entlangführte, als es ihm plötzlich so schien, als stünden wichtige Ereignisse bevor. Ein mutigerer Mann wäre dem Hohepriester und seinem Mündel gefolgt, um sicherzustellen, dass sie ihr Ziel wohlbehalten erreichten, aber allein der Gedanke
daran war schon genug, um zu erkennen, dass er, der dicke Lonei, dann ganz allein da draußen wäre. Er fürchtete sich vor dem Durcheinander und der Geschäftigkeit Bierbruchs – und schon bei der Vorstellung der rufenden, schiebenden und brüllenden Leute brach ihm der Schweiß aus. Er stellte sich vor, wie er von Dunkelheit umgeben war, in der seine gelbe Priesterrobe hell leuchtete, während sich die schmutzigen Menschenmassen langsam näher schoben und nach dem Blut der Priester lechzten. Nein, das konnte er nicht, aber es gab noch eine andere Möglichkeit – und auf diese stürzte er sich mit der Erleichterung eines Mannes, der sein Gewissen ausgetrickst hatte.
Lonei folgte den Soldatenreihen durch die Straßen von Hale, huschte dabei von Schatten zu Schatten. Die Einwohner, Kleriker und Laienprediger gleichermaßen, flohen vor ihnen wie verschreckte Hasen. Er hörte die befehlsgewohnte Stimme der Sergeanten mit unnützen Anweisungen durch die Abendruhe hallen, um ihre Männer in Reih und Glied zu halten. Sie taten alles, um ihre Anwesenheit in dem eingeschüchterten Viertel bekanntzumachen.
Erst als man die Trupps zum Stillstand brachte, erkannte der dicke Lonei, dass ihr Ziel die schwarze, spitz zulaufende Kuppel des Tempels von Tod war. Aber nicht einmal, als man die Wagen klappernd an die Spitze der Reihen brachte, konnte er erahnen, was sie vorhatten. Er schlich sich näher heran, wobei er darauf achtete, dass andere in der Nähe standen, um bessere Ziele für die Soldaten abzugeben, wenn sie sich umdrehen sollten.
Die Soldaten schwärmten aus, die Waffen waren gezogen. Auf den Ruf eines Sergeanten mit brutalen Gesichtszügen hin machten sich einige Männer, Byoranische Wachen, an die Arbeit. Er war wie eine Rubinturmwache gekleidet, obwohl er ein Femder war und sich nicht nur durch seine dunkle Hautfarbe, sondern auch durch die seltsamen, bis zum Ellbogen reichenden Armschienen
absetzte, auf denen immer wieder bläuliches Licht aufzublitzen schien.
Er hörte sorgenvolle Rufe aus dem Tempelinneren, die schnell von denen aufgenommen wurden, die aus sicherer Entfernung zusahen. Flehen, wütende Rufe und das Jammern junger Novizen begleitete die Geschäftigkeit am offenen Eingang zu Tods Tempel, an dem die üblichen drei Torbögen den Weg zum Haupttempel wiesen. Als der große Sergeant auf die oberste Stufe trat und seine Männer anblaffte, sich endlich anzustrengen, erkannte Lonei, dass die Byoranischen Wachen sich Zeit gelassen hatten, sobald sie das Holz von den Wagen geholt hatten. Vielleicht hatten sie die Befehle auch nicht genau verstanden.
Der Sergeant gab jemandem eine Ohrfeige und warf ihn damit zu Boden. Es gab kein Missverständis. Man brachte Werkzeuge und Holz, und im Nu war das erste von Tods offenen Toren verbarrikadiert. Lonei stockte der Atem. Er hatte von einer solchen Blasphemie noch nie zuvor gehört, geschweige denn so etwas gesehen. Die Tore Tods versperren? So etwas konnte er sich nicht einmal vorstellen … Der Priester Shotirs sank auf die Knie: wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte. Die Umstehenden starrten ungläubig und entsetzt zum Tempel, ebenso davon getroffen wie der dicke Lonei.
»Auf Anweisung der Herzogin«, rief der Sergeant so laut er konnte und wedelte mit einem Papier vor der versammelten Masse, die sich knapp außer Reichweite der Reihe aus Rubinturmwachen hielten, »ist der Tempel des Todes geschlossen, bis die Verräter in den Reihen der Kulte zur Rechenschaft gezogen wurden. Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wird mit dem Tod bestraft.«
Das war eine lächerliche Verordnung, die man vermutlich nur mit der Besatzung einer ganzen Garnison würde durchsetzen können. Doch sogar Lonei erkannte ihre Wirksamkeit, denn er
fühlte sich, als seien seine Glieder völlig kraftlos. Der Tempel Tods stellte das Herz Hales dar, das Haus des Oberhaupts der Götter – dies war ein Tiefschlag für alle und trieb denen, die es mitansahen, die Luft aus dem Körper. Eine Beleidigung und Verletzung. Tods Haus entweiht, und eine Handvoll Soldaten beschmutzte die Ehre Tods.
Vor Leid
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